chrismon: Angenommen, wir wären bei einem Empfang und machten Small Talk – irgendwann würden wir fragen: Woher kommen Sie eigentlich? Was würden Sie antworten?
Wolf von Lojewski: Meine Eltern haben mir klipp und klar gesagt: Du kommst aus Masuren, vergiss das nicht! Also gut: Ich komme aus Masuren.
Erika Steinbach: Ich bin geboren in Westpreußen, kann mich aber überhaupt nicht erinnern an den Geburtsort: Ich war erst zwei, als meine Mutter mit mir floh.
Und wo Sie heute leben, ist das Ihre Heimat?
von Lojewski: Ein Herumtreiber wie ich musste lernen, sich dort daheim zu fühlen, wo er gerade ist – ob London oder Amerika. Aber manchmal ging es mir schon wie dem Sänger Freddy: Wenn der auf Sankt Pauli war, hatte er Heimweh nach dem Meer, und wenn er auf dem Meer war, hatte er Heimweh nach Sankt Pauli. Heute lebe ich in Schlangenbad, in der Wiesbadener Gegend. Das ist jetzt meine Heimat.
Steinbach: Ich lebe in Frankfurt, aber ein Heimatgefühl hat sich nie entwickelt – obwohl ich hier 13 Jahre Kommunalpolitik gemacht habe. Meine Heimat ist Deutschland, kein bestimmter Ort. Wahrscheinlich, weil ich als Kind mit meiner Mutter an zu vielen Orten war. Erst über die Dörfer in Schleswig-Holstein – und die Bauern haben sich alle nicht gefreut, dass wir da waren–, dann nach Husum, Flensburg, Berlin, schließlich Hanau. Da kann man keine Wurzeln schlagen. Vielleicht mag ich deshalb so unendlich gern Lyrik, die etwas Sehnsuchtsvolles ausstrahlt, Rilke, Eichendorff, Formulierungen wie „o Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald“. Heimat hat für mich etwas Sehnsüchtiges, etwas Unerfülltes.
Was es gar nicht gibt?
Steinbach: Ja.
von Lojewski: Oder was es so nicht mehr gibt. Heimat hat mehr mit der Seele zu tun als mit der Realität. Menschen sehnen sich zum Beispiel zurück nach einer Heimat, wie sie früher einmal war, als sie selbst noch klein waren und die Welt groß und voller Abenteuer. So wie Altenbruch bei Cuxhaven, wo wir sozusagen „abgekippt“ worden waren. Eine mit roten Ziegeln gepflasterte Straße, kleine Häuschen, man lebte auf der Straße – für mich als Flüchtlingskind praktisch, weil wir nur eine winzige Mansarde hatten. Heute sieht das alles anders aus.
Herr von Lojewski, die Familie Ihrer Mutter hatte bis 1945 ein großes Gut in Gerdauen in Ostpreußen. Hatten Sie ein Gefühl von Verlust?
von Lojewski: Nein. Mir war es als Kind sehr, sehr langweilig, weil das nächste Kind, mit dem ich hätte spielen können, Kilometer entfernt war. Und als ich mit sechs meinen Vater, einen Journalisten, kennen lernte – er war erst mit einer anderen Frau verheiratet – und er mir erzählte, wo er alles schon war, am Meer und in den Bergen, da sagte ich: Da will ich auch hin. Ich hab erst später Gefühle in diese Heimat Masuren hineingelegt.
Erika Steinbach: "Die Geschichte der Vertreibungengehört zu unserer Identität"
Frau Steinbach, Ihr Vater, gebürtig in Hanau, als Luftwaffenoffizier im besetzten Polen eingesetzt, lernte Ihre Mutter, eine Bremerin, in Rahmel bei Danzig kennen. Im klassischen Sinn sind Sie keine Vertriebene.
Steinbach: Meine Eltern haben beide den Vertriebenenausweis, weil dort ihr Lebensmittelpunkt war.
Aber Sie haben keine Erinnerung mehr an Ihren Geburtsort. Wie kommt es, dass die Arbeit für die Vertriebenen zu so einer Leidenschaft geworden ist?
Steinbach: Das kam sehr spät. Als Stadtverordnete für die CDU in Frankfurt hatte ich mich intensiv mit dem jüdischen Schicksal beschäftigt. Aber als ich in den Bundestag kam, begegnete mir eine alte Frau, eine Vertriebene, die sagte: „Sie kümmern sich ja um alles, aber um die Schicksale, die andere Deutsche erlitten haben, sollten Sie sich vielleicht auch mal kümmern. Ich bin über Wochen vergewaltigt worden, meine Kinder wurden umgebracht, mein Mann ist gefallen.“ Da hab ich bei mir gedacht: Eigentlich muss ich mich schämen. Es ist verantwortungslos, wenn man über einen Teil deutscher Geschichte einfach drüber wegschaut. Ein Viertel der Deutschen heute sind Vertriebene oder Kinder von Vertriebenen. Das geht auch die Nichtver-triebenen an.
Warum?
Steinbach: Weil das unsere Gesamtidentität ausmacht. Es sind kulturelle Traditionen mit hierhergenommen worden, Erlebtes aus Jahrhunderten; auch das Miteinander mit anderen Völkern, die Sudetendeutschen zum Beispiel waren ja tschechoslowakische Staatsbürger.
von Lojewski: Das Thema war aus gutem Grund über Jahrzehnte politisch unappetitlich. Weil man sagte, die sollen ruhig sein, Hauptsache wir haben Frieden. Als ich den Film über Masuren machte, bekam ich Hunderte von Briefen: Menschen nahmen die Sendung zum Anlass, ihre eigene Geschichte zu erzählen, die ja bis etwa 1995 keiner so richtig hatte hören wollen.
Aber Sie als Vertriebener waren nicht im Vertriebenenverband?
von Lojewski: Doch. Meine Eltern hatten mich bei der Ostpreußen-Hilfsgemeinschaft in Kiel als Mitglied eingetragen und immer den Beitrag bezahlt. Als meine Mutter gestorben ist, habe ich gesagt: Jetzt zahle ich den Beitrag.
Aber Sie haben sich damit nicht identifiziert.
von Lojewski: Ja und nein. Wenn in der Kieler Ostseehalle Heimatvertriebenentreffen war, habe ich Programme verkauft. Aber ich habe natürlich gemischte Erinnerungen, denn manche Redner redeten ziemlichen politischen Blödsinn. Im besten Fall machten sie den Vertriebenen vor, die Vereinten Nationen würden dafür sorgen, dass wir bald alle wieder nach Hause kommen. Und manche haben auch rechtsradikalen Quark geredet.
Es ist schon ein Unterschied, ob Vertriebene von anderen Deutschen fordern, dass sie endlich mal zuhören, oder ob man etwas von anderen Ländern fordert, also Entschädigung und Entschuldigung...
Steinbach: Die Frage der Entschädigung müssen die Regierungen klären. Und es hatten nur 13 Prozent der Vertriebenen Eigentum an Grund und Boden – meine Familie ja auch nicht. Polen hätte seinen Bürgern längst die Ängste nehmen können, so wie Ungarn Anfang der 90er Jahre: mit einer geringen Entschädigung in Form von Anteilsscheinen für Immobilien. Das hatte zwar nur symbolischen Charakter, aber die Vertriebenen waren glücklich. Jedes Land, das Mitglied der EU werden will, muss die Menschenrechte wahren, aber in der tschechischen Republik und in der Slowakei gibt es immer noch die Benes-Dekrete, die die Vertreibung rechtfertigen.
Sie haben noch ein anderes großes Ziel: das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. Das sorgt für Zündstoff, weil Sie nur diesen einen Ausschnitt von NS-Zeit und Krieg thematisieren...
Steinbach: Nein, wir stellen ihn in den Zusammenhang der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts. Einerseits wollen wir zeigen, wo die deutschen Vertriebenen herkommen, ihren Weg, ihre Integration; andererseits nehmen wir Anteil am Schicksal anderer Vertriebener in Europa – von den Armeniern bis zu den Kosovaren. Vertreibung darf kein Mittel der Politik sein!
Trotzdem, was die NS-Zeit betrifft, richtet sich Ihr Blick nur auf einen Ausschnitt. Da sind die Deutschen plötzlich die Opfer und die anderen die Täter.
Steinbach: Jeder weiß, dass Deutschland den Krieg begonnen hat. Aber daraus zu schließen, dass die Vertreibung die gerechte Strafe ist, die eben irgendjemand mehr getroffen hat als andere, das ist ein Denken in Blutrache. Und absolut unchristlich.
von Lojewski: Mir würde eher einleuchten, man hätte irgendwo ein schlichtes Mahnmal, das sagt: Für die Verbrechen, die Deutschland begangen hat, haben bestimmte Gruppen mehr gebüßt als andere. Ich verstehe einfach noch nicht ganz, warum Armenier oder all die von Stalin ins Königsberger Gebiet vertriebenen Kirgisen und Usbeken jetzt plötzlich nach Berlin kommen sollen, um dort ihre Vertreibung gewürdigt zu bekommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die sich mit ihren Gefühlen da verankert sehen.
Wolfs von Lojewski: "Die einen sind Jäger, die anderen bleiben lieber in der Höhle"
Ein Vertriebener aus Schlesien hatte sich für seinen ersten Besuch in Polen 1972 folgende Sätze zurechtgelegt, auf Deutsch und Polnisch: „Wir kommen zu Besuch in unsere Heimat. Wir wollen nicht zurück. Jetzt ist es Ihre Heimat.“ Hätten auch Sie solch einen Zettel mitgenommen?
von Lojewski: Natürlich hätte ich das gemacht! Ich habe auch einen Verzicht auf Besitz unterschrieben, eine von der Publizistin Helga Hirsch initiierte Erklärung von Vertriebenen. Das war im Herbst 2004, als es wieder einmal einen überflüssigen Streit zwischen Deutschland und Polen über wechselseitige Entschädigungen gab. Das war zwar nicht sehr großmütig von mir, weil die Russen aus dem Gutshaus meiner Mutter ein Schussfeld gemacht haben und vom Elternhaus meines Vaters nur noch ein paar Mauerreste unter Büschen übrig sind. Aber mich hätte das eh nicht interessiert. Ich möchte Ruhe und Frieden, auch für den polnischen Bauern.
Steinbach: Ich würde keinen Zettel mitnehmen, da wir kein Eigentum an Grund und Boden besessen haben. Es wäre leicht und heuchlerisch, auf etwas zu verzichten, was man nicht besaß. Und auf das Eigentum anderer kann ich nicht verzichten. Für mich wie für die meisten Vertriebenen spielt die Frage Eigentum überhaupt nicht die Rolle. Die Vertriebenen kommen in ihre Heimat, und zwar nicht mit Handgranaten oder mit Groll im Herzen, sondern mit Sehnsucht, aber meistens auch mit Geld in der Tasche und dem guten Willen, einen freundschaftlichen Kontakt herzustellen.
Man kann sich in der Heimat auch sehr fremd fühlen, vor allem als Jugendlicher – ist Ihnen das so gegangen?
Steinbach: Ich war ein unglaublich schüchternes Kind, ich konnte in der Schule kein Gedicht aufsagen, ohne dass ich die Stimme dabei verloren habe. Ich war immer sehr menschenscheu. Das kam vielleicht auch durch dieses Fluchterlebnis auf dem Schiff über die Ostsee unter unsäglichen Bedingungen. Ich habe mich eigentlich immer hinter meiner Mutter versteckt.
Lebt Ihre Mutter noch?
Steinbach: Sie ist vor fünf Jahren gestorben. Und da ist mir zum ersten Mal wirklich bewusst geworden, was das für mich bedeutet hatte. Solange ein Mensch da ist, merkt man das oft gar nicht. Und im Grunde, das wurde mir schlagartig klar, war sie meine Heimat.
Viele Menschen müssen sich heute neu verwurzeln – und sei es nur, weil man einen Job in einer fremden Stadt annehmen muss. Wie kann man sich in der Fremde eine Heimat schaffen?
von Lojewski: Da, wo ich bin, ist auch Heimat. Heimat ist schon ein bisschen das, was man im Rucksack mit sich schleppt. Natürlich immer mit Masuren in der Seele! Aber dieses Bürgergefühl, wirklich dazuzugehören und sich für diese neue Heimat zu engagieren, kam in Washington oder London nicht so recht auf. Dort gibt es zum Beispiel keinen SPD-Ortsverein. Aber jetzt, in meinem Schlangenbad, interessiert mich, was da in der Kommunalpolitik so passiert. Also rufe ich schon mal den Bürgermeister an, wenn ich finde, wir sollten uns bei etwas engagieren.
Erika Steinbach: "Ab einem bestimmten Alter sucht man nicht mehr nach Heimat"
Frau Steinbach, sich neu verwurzeln, wie geht das?
Steinbach: Ich glaube, ab einem bestimmten Lebensalter sucht man nicht mehr nach Heimat, sondern man sucht eben an den Orten, die sich nun mal ergeben haben, den Kontakt zu den Menschen. Freundschaften sind das A und O. Dazu muss man selbst viel beitragen, denn wie so vieles im Leben ist Freundschaft keine Einbahnstraße.
Das Deutsche Jugendinstitut hat herausge-funden, dass nur 20 Prozent der Erwachsenen sich weiter als eine Stunde Autofahrt von den Eltern entfernt niedergelassen haben...
von Lojewski: Die einen sind die Jäger, und die anderen bleiben lieber in der Höhle.
...was würden Sie jungen Leuten raten, die zum Beispiel in einer Kleinstadt leben – weggehen oder dableiben?
Steinbach: Man muss beweglich sein, sonst kann man in dieser Arbeitsmarktsituation nicht überleben.
von Lojewski: Wenn jemand sein ganzes Leben in Hanau verbringt, vertut er einen wesentlichen Teil der Chance, die Leben bedeutet. Die Leute können ja nach einer Weile wiederkommen.
Steinbach: Früher musste ein junger Handwerker auf die Wanderschaft gehen, jahrelang. Das tat auch weh. Aber wenn man mal was anderes sieht, lernt man auch leichter, andere Menschen zu verstehen und zu begreifen. Lesen erschließt ja manches, aber nicht alles.
von Lojewski: Da langt es nicht, wenn einer nur mal zwei Wochen Urlaub auf Mallorca macht...
Steinbach: Das ist ja auch die falsche Blickrichtung.
von Lojewski: ...sondern man muss woanders auch mal eintauchen. Mich hat das Trampen bis nach Persien gebracht – das war natürlich einfacher als damals auf der Walz, als es noch keine Autos gab. Wenn es so was Ähnliches gäbe, das wäre eine gute Sache. Ich möchte jungen Leuten sagen, ihnen gehört nicht nur Hanau oder Hessen, ihnen gehört eigentlich die Welt, und sie sollten das nutzen.
Eine ganz andere Frage: Wo wollen Sie dereinst mal begraben sein?
von Lojewski: Am liebsten überhaupt nicht!
Steinbach: Am liebsten auf irgendeinem schönen kleinen Bergfriedhof! Ich hab zum Beispiel mal den Friedhof am Berghang in St. Urban in Kärnten gesehen. Aber da dort nur ihre Einheimischen begraben werden, ist das wahrscheinlich Utopie.
Da kommt aber die Heimatlosigkeit durch! „Ich hab da keinen Platz mehr!“
von Lojewski: Ich habe mal im Süden der Insel Kos auf einem Berg einen Friedhof gesehen. Die Sonne scheint, es weht immer ein leichter Wind, dann die ungeheure Sicht übers weite Meer – was natürlich, wenn du tot bist, sehr wichtig ist.
Steinbach: Man kann nie wissen!