Der Tag des Herrn
07.10.2010

Reinhold stand am Fenster und schaute hinaus. Unten auf der Straße gingen ein paar Männer vorbei und er trat instinktiv einen Schritt zurück. Im Grunde fürchtete er sich vor den Menschen hier, vor ihrer launischen Art und ihrer Verstocktheit. Ihre grobe Sprache stieß ihn ab und ihr Lachen war ihm unheimlich. Sein Vorgänger war wie sie gewesen, ein ungeschlachter lauter Mensch, der am Sonnabend mit seiner Gemeinde trank und ihr am Sonntag ins Gewissen redete. Als Reinhold die Stelle vor einem Jahr angetreten hatte, war er voller Tatendrang gewesen.

Er hatte sich auf den Bodensee gefreut und hatte gedacht, die Menschen seien offener im Süden. Aber er hatte sich getäuscht. Und was er auch angefangen hatte, es war ihm misslungen. Alles Mögliche wurde ihm vorgeworfen, dass er beim Abendmahl Brot statt Oblaten verwendete, Traubensaft statt Wein, überhaupt, dass er den Gottesdienst nicht so feiere, wie man es gewohnt sei. Es hieß, er kümmere sich zu wenig um die Alten, und dass er sich von den Konfirmanden duzen ließ, war auch nicht recht. Es waren lauter Kleinlichkeiten. Mit der Organistin hatte er es sich verdorben, weil seine Frau ein paar Mal Gitarre gespielt hatte im Gottesdienst, mit dem Mesner, weil er die Abrechnungen etwas zu genau kontrollierte.

Reinhold zog die Gardinen zu und ging ins Wohnzimmer. Brigitte schaute fern. Er hatte aufgehört, ihr von seinen Problemen zu erzählen, sie hatte es selbst schwer genug, sich einzuleben, sich in der Rolle der Frau Pfarrer zurechtzufinden, die sie nie hatte spielen wollen. Er setzte sich neben sie aufs Sofa. Im Fernseher war ein kleiner Junge zu sehen, der behauptete, er könne die Buchstaben einer Buchstabensuppe nur mit dem Mund entziffern. Brigitte lachte. Ist er nicht süß? Reinhold sagte nichts, er wusste, woran Brigitte dachte.

Er lag im Dunkeln und konnte nicht einschlafen. Aus dem Wohnzimmer hörte er den Fernseher. Er fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Er hatte das Gespräch gesucht, hatte sich erklärt und teilweise nachgegeben. Aber das schien die Menschen hier nur noch mehr gegen ihn aufzubringen. Er hatte nicht mehr die Kraft zu kämpfen. Früher war der Sonntagsgottesdienst der Höhepunkt seiner Woche gewesen, jetzt graute ihm vor den verschlossenen Gesichtern, vor dem kalten Schweigen, mit dem die Gemeinde ihn empfing. Wenn er in der Bibel las, sprachen die Texte nicht mehr zu ihm, und wenn er auf der Kanzel stand, empfand er nichts als Leere. Schon zwei Mal war der Gottesdienst ausgefallen, weil er mit Krämpfen im Bett lag.

Der Wecker klingelte um sieben, Brigitte musste vergessen haben, ihn für Sonntag zu stellen. Als Reinhold sich über sie beugte, um ihn auszuschalten, erwachte sie. Sie fragte, ob es ihm etwas ausmache, wenn sie heute nicht zum Gottesdienst komme. Sie fühle sich nicht wohl. Reinhold fröstelte, als er im Bad den Pyjama auszog. Aus den Augenwinkeln sah er die Spiegelung seines bleichen kraftlosen Körpers. Schnell wandte er sich ab und stellte sich unter die Dusche. Beim Kaffee ging er die Predigt noch einmal durch. Er würde über Römer 9 sprechen. Ja freilich, o Mensch, wer bist du, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem Former sagen: Warum hast du mich so gemacht?

Dann, viel zu früh, machte er sich auf den Weg. Draußen war es feucht und kalt. Seit Wochen lag dicker Nebel und es hieß, bis zum Frühling werde das so bleiben. Niemand war unterwegs um diese Zeit, nur ein paar zerzauste Möwen vom nahen See stöberten in den überquellenden Mülleimern der kleinen Fußgängerzone. Die Kirche war noch abgeschlossen. Reinhold war froh, niemandem zu begegnen. Er ging durch das dunkle Kirchenschiff in die Sakristei. In der engen Kammer gab es einen Elektroofen, trotzdem war sie so kalt, dass sein Atem dampfte.

Reinhold zog den Talar an und las das Gebet von Martin Luther, das einer seiner Vorgänger an der Tür des Kleiderschranks angebracht haben musste. Herr Gott, lieber Vater im Himmel, ich bin wohl unwürdig des Amtes und Dienstes, darin ich Deine Ehre verkündigen und der Gemeinde pflegen und warten soll. Aber Reinhold fühlte sich nicht einmal unwürdig, er empfand nur noch Gleichgültigkeit. Er saß da und dachte an nichts, bis er irgendwann die Kirchentür zufallen hörte und kurz darauf ein paar schiefe Töne von der Orgel. Schon seit längerem kommunizierte er mit der Organistin nur noch per Mail, der Mesner tat seinen Dienst wortlos und ohne ihn anzuschauen. Reinholds Hände waren steif vor Kälte, und er begann, hin und her zu gehen, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Sein Vorgänger hatte die Gemeindemitglieder jeweils an der Tür begrüßt, aber Reinhold brauchte diese Momente der Stille und betrat das Kirchenschiff erst während des Vorspiels. Auch das nahm man ihm übel.

Als er die Orgel hörte, räusperte er sich, zupfte an seinem Talar und trat aus der Sakristei. Mit gesenktem Blick und schnellen Schritten ging er zu seinem Stuhl unter der Kanzel und setzte sich so, dass die Gemeinde ihn im Profil sehen konnte. Als die Orgel verstummte, wartete er einen Moment, bis das letzte Echo erstorben war, dann stand er auf und trat hinter den Opfertisch, auf dem zwei Kerzen brannten und Brot und Traubensaft bereitstanden. Die Kirche war leer.

Es dauerte einen Moment, bis Reinhold es begriffen hatte. Niemand war zum Gottesdienst gekommen. Nur der Mesner stand hinten neben der Tür beim Mischpult, und oben auf der Empore saß die Organistin mit dem Rücken zu ihm. Er war sicher, dass sie ihn durch den kleinen Spiegel beobachtete, der an der Orgel angebracht war. Er atmete einmal tief ein und aus, dann sagte er, Friede sei mit euch. Wir erheben uns zum Gebet. Er zögerte, als warte er darauf, dass jemand aufstehe, dann sprach er das Gebet wie an jedem Sonntag. Amen, hörte er sich sagen, wir singen Lied Nummer 161, Strophen eins bis drei. Kaum hatte er den Satz beendet, fing die Organistin zu spielen an, ihr schmaler Rücken und ihr Kopf bewegten sich voller Emphase, aber ihr Spiel war ohne Gefühl und ohne Liebe. Der Mesner stand da und hielt das Gesangbuch mit beiden Händen fest, ohne es zu öffnen. Liebster Jesu, wir sind hier, dich und dein Wort anzuhören. Reinhold sang laut, aber seine Stimme klang brüchig. Wenn wenigstens Brigitte hier wäre, dachte er, aber vielleicht war es besser, dass sie seine endgültige Niederlage nicht miterlebte.

Nach der zweiten Strophe brach die Orgel plötzlich ab und Reinhold sah, wie die Organistin aufstand und wegging. Jetzt war nur noch seine Stimme zu hören und die Schritte der Organistin, die hastig und ohne sich um den Lärm zu kümmern die enge Treppe von der Empore herunterstieg. Sie blieb kurz beim Mesner stehen und flüsterte mit ihm, dann schlüpfte sie in den Mantel, den sie über dem Arm getragen hatte, und verließ die Kirche. Der Mesner folgte ihr hinaus, und die Tür schlug zu mit einem lauten Knall.

Unser Bitten, Flehn und Singen lass, Herr Jesu, wohl gelingen. Die letzten Worte verhallten im leeren Raum. Reinhold wartete, bis es ganz still war, dann blätterte er in der großen Bibel bis zur Stelle dieses Sonntags und begann, den Brief an die Römer zu lesen. Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht. Er stockte, musste husten. Er nahm einen Schluck Traubensaft aus dem Abendmahlskelch und fuhr fort: Ich habe große Trauer und unaufhörliches Leid in meinem Herzen. Ich wollte nämlich, ich könnte selber ein Ausgeschlossener sein.

Er hatte über das Verhältnis von Juden und Christen sprechen wollen, über die Entwicklung im Nahen Osten und über Streit und Versöhnung, aber jetzt kam es ihm vor, als müsse er wie der Junge gestern im Fernsehen jedes Wort, jeden Buchstaben mühsam entziffern. Nach der Lesung betete und sang er noch einmal, und dann rief er, so laut er konnte, wir sind alle eingeladen zum Mahl des Herrn. Und plötzlich war es ihm, als sehe er die Kirche voller Menschen, voll der Schatten jener, die hier seit Hunderten von Jahren das Abendmahl gefeiert hatten, die hier getauft und getraut worden waren und im Tod begleitet. Sie erhoben sich und kamen auf ihn zu, und er reichte ihnen das Brot und den Wein, ein nicht endender Zug von Menschen. In diesem Moment fiel helles Sonnenlicht durch die farbigen Fenster der Kirche, und der Raum verwandelte sich, es war eine Explosion von Schatten und Licht. Das Kirchgestühl knackte und die Orgel hallte, es klang wie ein mächtiges Atmen, ein Erwachen nach langem Schlaf.

Reinhold fühlte, wie das Blut ihm in den Kopf schoss. Er nahm den Korb mit dem Brot und ging den Mittelgang entlang und aus der Kirche hinaus. Der Nebel hatte begonnen, sich aufzulösen, an einigen Stellen war schon der blaue Himmel zu sehen und im Osten die Sonne, die die Welt erstrahlen ließ, als sei sie neu gemacht. Auf dem Vorplatz standen einige Gemeindemitglieder in kleinen Gruppen zusammen. Sie schienen auf ihn gewartet zu haben, vielleicht hatten die Organistin oder der Mesner sie alarmiert, die bei ihnen standen. Sogar Brigitte war da. Reinhold ging auf sie zu und hob den Korb in die Höhe. Das Brot des Lebens, rief er. Die Menschen starrten ihn feindselig an und wichen vor ihm zurück.

Dann hörte Reinhold ein Kreischen und sah, als er den Kopf hob, eine Möwe über sich, die still zu stehen schien in der Luft. Er nahm ein Stück Brot aus dem Korb und warf es in die Höhe, und mit einer winzigen Flügelbewegung kippte die Möwe vornüber und fing das Brot im Flug. So nah flog sie an Reinholds Kopf vorbei, dass er den Luftzug ihrer Flügel zu spüren meinte. Und plötzlich war er von einem Schwarm von Möwen umgeben. Er warf mit dem Brot um sich, schließlich holte er aus und leerte den ganzen Korb mit einem Schwung. Wir sind alle eingeladen, rief er ausgelassen. Die Schreie der Vögel klangen wie irres Lachen und auch Reinhold musste lachen, konnte nicht aufhören zu lachen, denn nach vielen dunklen Wochen war endlich der Tag des Herrn gekommen.

 

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Die seelische Kluft zwischen Pfarrer und Gemeinde: ein originelles Thema.
Man wird als Leser magisch in die Isolationsgefühle des Pfarrers hineingesogen gegenüber einer Gemeinde, die ihn rundweg ablehnt.
Die Spannung steigert sich ins physisch Schmerzhafte: Wie kommt der Geistliche bloß aus dieser Nummer raus? Dann der jähe Sprung ins Surreale, anders läßt sich eine derart entwickelte Geschichte auch gar nicht zu Ende führen. Der Pfarrer ist mit einem Schlag aus dem Schneider, der Dumme ist der Leser, der dem Erzähler zu naiv gefolgt war und mit Katzenjammer zurückbleibt.