Die letzten Aufnahmen zeigen Heiner Petersen allein am Bahnsteig. Es ist Samstag, der 16. April, 5.10 Uhr, eine knappe Stunde nach Sonnenaufgang. Heiner Petersen steht am Gleis 2 einer Hamburger S-BahnHaltestelle, dicht an der Bahnsteigkante. Er wirkt gefasst, fast gelangweilt. Er nimmt den Oberkörper vor und zurück. Wippt und wartet. Heiner Petersen, ordentlich gescheitelt, hat keine Tasche, keinen Rucksack, kein Gepäck. In der rechten Hand ist seine Geldbörse: 16 Euro und 52 Cent. Später wird seine Tochter das Portemonnaie bei der Bahnpolizei abholen. Dort wird sie sich auch die Aufnahmen der Überwachungskamera ansehen. Die Aufzeichnungen von ihrem Vater enden um 5.11 Uhr, dann nimmt der Rekorder die Daten einer anderen Kamera auf. Um 5.13 Uhr macht Heiner Petersen, 82 Jahre alt, einen Schritt nach vorn.
Um 5.13 Uhr macht Heiner Petersen, 82 Jahre alt, einen Schritt nach vorn.
Die Suizidzahlen sind in Deutschland deutlich zurückgegangen, in den vergangenen 20 Jahren um mehr als 40 Prozent. Die Suizide bei älteren Menschen hingegen nehmen zu. Im Jahr 2003 nahmen sich 3632 Menschen das Leben, die 65 Jahre oder älter waren, zehn Prozent mehr als noch fünf Jahre zuvor. Es ist eine Kleinstadt die da jedes Jahr verschwindet. Eine Kleinstadt an Menschen, die sich auf Zehenspitzen aus dem Leben schleichen. Denn der Suizid alter Menschen findet keine Öffentlichkeit. Anders als bei jungen Menschen, bei denen sich alle nach Schuldigen umsehen, erscheint der Suizid von Alten unspektakulär. Das selbst bestimmte Ende eines verbrauchten Lebens erscheint als Erlösung. "Jetzt hat er seinen Frieden", sagen die Kinder. "Er war ja auch schon sehr alt", nicken die Nachbarn. Aber: Niemand bringt sich gern um. Suizid bleibt eine Tötung, auch wenn es das eigene Leben ist, das vernichtet wird. Suizid resultiert aus einer nicht mehr zu bewältigenden Hilflosigkeit. Je älter, desto hilfloser. 90-Jährige nehmen sich dreimal häufiger das Leben als 50-Jährige. Jede zweite Frau, die Suizid begeht, ist über 60 Jahre alt. Je älter Menschen sind, je weniger Leben ihnen noch bleibt, desto öfter beenden sie es von eigener Hand.
Als Anna Petersen an jenem Samstagmorgen aufwacht, ist ihre Schlafzimmertür angelehnt. Ihr Mann und sie haben getrennte Schlafzimmer. Dass die Tür angelehnt ist, ist ungewöhnlich. "Wird er eben schon auf sein und nach mir geguckt haben", beruhigt sie sich. Sie hört nichts aus dem Badezimmer: keinen Rasierer, keinen Wasserhahn, keine Klospülung. Anna Petersen steht auf. Sie sieht sein leeres Bett, das leere Bad, den leeren Lehnsessel, in dem er so gern sitzt. "Wird er eben zum Bäcker gegangen sein, Brötchen holen." Sie geht zum Bäcker, fragt nach ihrem Mann. Man hat ihn nicht gesehen. Sie geht auf den Markt. Auch dort hat ihn keiner gesehen. Um kurz vor acht kommt sie zurück, schließt den Briefkasten auf, um die Zeitung rauszunehmen. Dahinter entdeckt sie seinen Wohnungsschlüssel. Ihr Mann ist da schon seit zweieinhalb Stunden tot.
Von der Statistik nicht erfasst wird der so genannte stille Suizid
Jeder zweite Mensch über 65, der sich das Leben nimmt, erhängt sich. Jeder zehnte stürzt sich vom Hausdach oder von einer Brücke. Ältere Frauen beenden ihr Leben häufig durch überdosierte Medikamente, Männer wählen eher Schusswaffen. Von der Statistik nicht erfasst wird der so genannte stille Suizid. Hochbetagte, die sich aufgeben: Sie trinken einfach weniger, sie essen weniger, sie nehmen ihre Medikamente nicht mehr. Wie viele das sind, weiß keiner so genau.
Im Herbst 1994 wird Heiner Petersen das erste Mal die Diagnose gestellt. Der Arzt schlägt die Beine übereinander, rollt auf seinem Bürostuhl ein wenig näher, blickt auf den Boden, holt tief Luft: "Krebs." Blasenkrebs, drei Monate Krankenhaus, dann Reha. Halb so schlimm, eigentlich. Richtig aufpäppeln kann ihn aber erst seine Frau: "Die beiden sind sehr gern nach Gran Canaria gefahren", erzählt die Tochter. "Sie hat gesagt: Komm, du musst dich wieder aufrappeln. Wir wollen dieses Jahr noch mal hin. Das muss gehen." Und es geht. Petersen erholt sich, gilt als geheilt. Im Sommer 1995 fahren die Petersens wieder nach Gran Canaria. Das letzte Mal. Ein paar Tage, nachdem Heiner Petersens Asche schon über die Ostsee verstreut ist, wird sich seine Tochter den Beipackzettel eines Betablockers aus dem Internet herunterladen. Ein Medikament gegen Bluthochdruck. Über einen längeren Zeitraum genommen, könne es zu schweren Depressionen führen, liest sie. Ihr Vater nahm elf Jahre lang Betablocker.
Altersdepressionen werden häufig nicht richtig erkannt.
Sehr viele alte Menschen, die sich umbringen, leiden an Depressionen. Altersdepressionen werden häufig nicht richtig erkannt. Die Hausärzte behandeln oft nur körperliche Krankheiten und lassen die psychischen Symptome außer Acht. Anders als bei jüngeren Menschen lassen sich Krankheiten bei Älteren oft nur hinauszögern, nicht mehr kurieren. Während der jüngere Mensch sich entwickelt, die Welt erobert, sein Leben aufbaut, geht es beim Älteren allenfalls darum, Verfall aufzuhalten, Verlust hinauszuzögern oder ihn eben hinzunehmen. Alt werden bedeutet, mit Verlust umgehen zu lernen. Doch dies mit professioneller Hilfe zu lernen, sind die meisten Alten nicht bereit. Sie haben immer noch Vorbehalte gegen therapeutische Hilfen. "Die Altersgruppe der über 65-Jährigen erlebt alles, was mit 'Psycho' anfängt, als etwas Bedrohliches, als etwas sehr Unangenehmes", sagt Reinhard Lindner, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie am Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete in Hamburg. "Diese Generation ist so aufgewachsen: Man spricht nicht über sich. Das macht man mit sich selber aus." Man verleugnet eher seine Schwächen. Neue Erlebnisse reißen Wunden von früher auf, schlecht verheilte Wunden von Trennung, Kränkung, Hilflosigkeit.
Auch die Therapeuten haben Berührungsängste: Ihre Patienten sind oftmals so alt, dass sie ihre Eltern sein könnten. Eine schwierige Rollenverteilung. "Man ist erst am Anfang, dieses Problem in der Therapeutenausbildung zu berücksichtigen", sagt Lindner.
Er sei schon länger so ruhig gewesen und sehr in sich gekehrt, sagt die Tochter Christina. "Wir haben das einfach nicht als Depression eingestuft." Auch der Hausarzt merkt nichts. "Ich dachte auch, 82 Jahre alt, man ist da eben nicht mehr so fit. Es gibt ja auch viele Leute, die in diesem Alter schon im Altersheim sind und gar nichts mehr machen." Und immerhin sei ihr Vater bis zum Schluss noch Auto gefahren, mit einem tipptopp werkstattgepflegten Wagen. Und er habe alles rund um Bank und Versicherung erledigt. Zwei Jahre nach der Diagnose Blasenkrebs das nächste Urteil: Darmkrebs. Die Behandlung ist erfolgreich. Es folgen acht krebsfreie Jahre. "Doch er war nicht mehr der Alte."
Alt sein hat in der Gesellschaft keinen Platz. Politik und Werbung propagieren den rüstigen Rentner: Mach mit, bring dich ein! Agile Nordic-Walking-Alte, die noch was wollen vom Leben, die durch den goldenen Lebensabend stürmen reise- und genussfreudig. Unternehmungslustige Pensionäre, die sich selbständig um Eigenheim, Enkel und Erspartes kümmern. Erfahrene Mitarbeiter, deren Weisheit noch im hohen Alter eingefordert wird. Versprochen wird ein Altern ohne Todesgefühl. Heraus kommt eine Gesellschaft, die das Sterben verlernt hat. Es ist das Bild von Johannes Heesters, wie er sich braungebrannt auf den Flügel stützt und seine Lieder singt. Ein Hundertjähriger in guter Form.
Geht die Form aus dem Leim, ändert sich der Ton. Jungpolitiker profilieren sich mit altenfeindlichen Statements. Unternehmensberater rationalisieren die Altenpflege, Leistungen werden portioniert: drei Minuten fürs Anziehen, zwei Minuten fürs Klogehen, vier Minuten fürs Frühstück. Die zwei Minuten für ein Gespräch zwackt die Pflegerin von der eigenen Zeit ab. Wer da nicht mehr mithalten kann, bleibt liegen, wird in Windeln verpackt, bekommt Sondennahrung. Und irgendwann ist es dann so weit: Alles scheint dafür zu sprechen, das Angebot einer Sterbehilfeorganisation in Anspruch zu nehmen.
Die letzten eineinhalb Jahre lebt Petersen in seiner eigenen Welt, zieht sich immer weiter zurück. "Er wurde sehr schwierig", sagt seine Tochter, "sehr in sich gekehrt und nicht mehr aktiv." Er beteiligt sich nicht mehr an Unterhaltungen, hat nicht mal mehr Lust zu antworten. Im Februar 2005 muss Petersen wieder ins Krankenhaus. Eine Zyste. Zum vereinbarten Termin ist kein Platz für ihn im Zimmer. Petersen soll auf einem Notbett dazugeschoben werden. Er sagt ab, bittet um einen Termin, sobald wieder ein richtiges Bett frei ist. Zwei Wochen muss Heiner Petersen warten. "Ich glaube", sagt die Tochter, "dass er in dieser Zeit mit dem Leben gebrochen hat. Die Warterei hat ihn einfach entmutigt." Nach drei Wochen bekommt er ein Bett. Die Zyste stellt sich als völlig harmlos heraus. Zwei Wochen später nimmt sich Heiner Petersen das Leben. "Vielleicht wollte er uns einfach nicht mehr zur Last fallen, speziell meiner Mutter", denkt Christina. "Vielleicht hat er sich gesagt, Mensch, ich bin so alt und krank, mit mir ist nichts mehr los."
"Wenn man einem Menschen die Würde nimmt hört er auf zu leben."
"Wenn man einem Menschen die Würde nimmt", sagt Claus Fussek, "dann hört er auf zu leben." Der Münchner Sozialarbeiter kämpft seit 20 Jahren für eine bessere Pflege in Deutschland. Soziale Euthanasie nennt er das, was passiert, die systematische Entsorgung älterer Menschen. "Warum erklären wir Dosenpfand und Benzinpreis zu Schicksalsfragen Deutschlands und interessieren uns nicht für die Pflegesituation älterer Menschen?" Fussek stellt viele unangenehme Fragen: Wer will stundenlang in seinem Kot liegen? Wer will allein sterben? Wer will nur dann zur Toilette, wenn der Pfleger Zeit hat? Wer will, während er auf dem Klostuhl sitzt, ständig einen Löffel vor dem Gesicht haben, weil gerade Mittagessen dran ist? Warum entwickelt jemand Altenwindeln mit einer Saugfähigkeit von 3,8 Litern?
"Ich hätte nie gedacht, dass es uns treffen würde", sagt Christina Petersen. Der erste Schock versetzt sie in eine Gefühlsstarre. Christina Petersen reagiert mit Ablehnung: "Das kann mein Vater nicht gemacht haben." Erst langsam setzt sich die Gewissheit fest. Im Kopf rattert die Fragemaschine: Warum gerade dieser Tag? Warum haben wir nichts bemerkt? Was hat er auf dem Weg zur Bahn gedacht? Wann hat sich die Entscheidung in seinem Kopf festgesetzt? Was hat den Ausschlag gegeben? Wie hätte man ihm helfen können? "Alles Sachen, die wir nie erfahren werden." Dann Verbitterung: "Man wird einfach allein gelassen." Enttäuschung. "Vor allem darüber, wie er meine Mutter behandelt hat. Sie hat nichts bekommen, nicht einmal einen Abschiedsbrief. Und die beiden waren fast 42 Jahre miteinander verheiratet." Aber Christina Petersen hat sich vorgenommen, ihren Vater nicht zu verurteilen: "Es war seine Entscheidung." Sie stellt sich sein Leiden vor. "Wie schrecklich muss es ihm gegangen sein, dass er für sich diese Art gewählt hat." Das Schlimmste sei gewesen, "dass wir nicht bemerkt haben, wie es ihm wirklich ging." Wenn ihr das bewusst gewesen wäre, hätten sie mit dem Arzt reden, Hilfe suchen, mit ihrem Vater darüber sprechen können.
Der Soziologe Peter Klostermann hat einen Forschungsschwerpunkt "Alterssuizid" am Institut für Rechtsmedizin der Berliner Universitätsklinik Charité eingerichtet. Über 170 Suizidfälle hat er untersucht. Er hat die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft gelesen; die Obduktionsberichte, die Abschiedsbriefe. Er hat mit den Angehörigen gesprochen, mit den Ärzten, den Nachbarn. Sein Ergebnis: "Es ist oft so, dass alte Menschen sich nicht ihren Angehörigen anvertrauen, sondern zum Beispiel ihrem Nachbarn. Der Nachbar ist häufig derjenige, dem zuerst auffällt, dass der ältere Mensch niedergedrückt ist." Klostermann fordert: "Wir brauchen nicht mehr Professionalität, sondern mehr Menschlichkeit, mehr Hingucken." Der Soziologe will deshalb die Nachbarn stärker in die Versorgung älterer Menschen mit einbeziehen, als eine Art Laienhelfer. Krankenkassen sollen einen Teil ihrer Überschüsse in dieses System investieren.
Allein schon die Bevölkerungsentwicklung macht solche Überlegungen notwendig: In 50 Jahren wird jeder dritte Deutsche über 60 Jahre alt sein, jeder zehnte über 80.
Heiner Petersen hatte keinen Ausweis dabei, als er sich umbrachte. Es dauerte drei Stunden, bis seine Identität geklärt werden konnte. Drei Stunden, in denen die Angehörigen nach ihm suchten, auf dem Markt und beim Bäcker, drei Stunden, in denen sie telefonierten, mit Freunden und der Polizei, drei Stunden, in denen sie hofften und bangten. Im Nachhinein ist Christina Petersen für diesen Aufschub dankbar. "Damit traf uns die Nachricht nicht völlig unvorbereitet. Mein Vater wollte, dass wir aktiv werden müssen, um ihn zu finden."