Die Zerrissenheit vor der Urkatastrophe
Matthias Pabst
21.07.2020

CD-Rezension: Alban Berg Ensemble Wien

Geschichte lässt sich bekanntlich immer nur in der Rückschau ordnen und interpretieren. Die Menschen in Europa im Jahr 1910 zum Beispiel konnten nicht wissen, dass ihre gewohnte Welt wenige Jahre später in Trümmern liegen würde und nichts mehr so sein würde wie vorher. Aber offensichtlich ahnten viele, dass es so wie gewohnt nicht lange bleiben konnte. Mit der Urkatastrophe des ersten Weltkriegs konnte niemand rechnen. Allerdings war schon vorher vieles im Fluss, auch in der Politik, der Literatur und der Musik. Das Alban Berg Ensemble Wien führt uns zurück in die Zeit um 1910 und versammelt auf einer neuen CD drei Komponisten aus dem deutschsprachigen Raum, Arnold Schönberg, Richard Strauß und Gustav Mahler.

Die Zerrissenheit im Persönlichen spiegelte die in der Welt

Gustav Mahler schrieb seine 10. Sinfonie im Jahr 1910. Sie blieb weitgehend unvollendet. Mahler war damals schon krank, er starb ein Jahr später. Die Sinfonie sollte wohl ein Schmerz- und Klagegesang werden, was durchaus autobiographisch erklärbar ist. Mahler erfuhr während seiner Arbeit an der Sinfonie, dass seine Frau Alma eine Affäre mit Walter Gropius hatte. Die Zerrissenheit im Persönlichen im Kleinen spiegelte quasi die der großen in der Welt um ihn herum. Diese Zerrissenheit findet sich auch bei Arnold Schönberg wieder. Seine Kammersinfonie aus dem Jahr 1906 gilt für die musikalische Moderne als richtungsweisend.

Matthias Pabst

Hans-Gerd Martens

Hans-Gerd Martens ist stellvertretender Chefredakteur beim Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen (ekn). Er ist Jahrgang 1957, geboren in Rastede bei Oldenburg. Studium: Politikwissenschaft, Neuere Geschichte, Publizistik und Journalismus in Münster und Hannover. Danach berufliche Stationen als freier Mitarbeiter beim NDR, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hohenheim und Redakteur bei medien aktuell (einem Medieninformationsdienst in Hamburg).

Schönberg sagte später über seine Kammersinfonie, dass er mit ihr seinen persönlichen Kompositionsstil gefunden habe und dass es sich frei gemacht habe von Richard Wagners harmonischen, formalen, orchestralen und emotionalen Neuerungen. Der dritte Komponist auf der CD, Richard Strauß, erscheint da auf den ersten Blick fast wie ein Traditionalist. In seinem Rosenkavalier, den er 1910 vollendete, kommt auch die heitere Walzerseligkeit zum Zuge.

Das Spiel mit Fassaden

Der Rosenkavalier wurde ein Riesenerfolg für Richard Strauß, vor allem beim Publikum. Die Kritiker wunderten sich über die Walzer, die sie damals als aus der Zeit gefallen empfanden. Von Strauß kannten sie ja schon die viel moderner klingenden Opern Elektra und Salomé. Diese CD hat keinen eigenen Namen, sie heißt wie das siebenköpfige Musikerteam: Alban Berg Ensemble Wien. Im Booklet lässt sich allerdings doch so etwas wie eine programmatische Grundidee für diese CD erkennen. Der Text trägt die Überschrift: Das Spiel mit Fassaden. Das passt aus heutiger Sicht ganz gut für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg - und auch für die Musik auf der CD. Die CD ist vor allem musikhistorisch interessierten Hörern sehr ans Herz zu legen. Erschienen ist sie bei der Deutschen Grammophon.

Alban Berg Ensemble Wien
Mit Werken von: Gustav Mahler (1860-1911), Arnold Schönberg (1874-1951), Richard Strauss (1864-1949) Deutsche Grammophon
Produktinfo

Alban Berg Ensemble Wien
Mit Werken von: Gustav Mahler (1860-1911), Arnold Schönberg (1874-1951), Richard Strauss (1864-1949)
Deutsche Grammophon
VÖ: 17.7.2020
Preis: 17,99 Euro

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