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Man hatte sich an diese Sichtweise fast schon gewöhnt: Die Treuhand hat den Osten verscherbelt an westdeutsche Firmen; die machten anschließend die Ostkonkurrenz platt; Ostdeutsche gingen beim Verkauf leer aus; fast alle verloren ihre Arbeit; die Treuhandanstalt ist an allem schuld. Diesen "Legenden" stellt der langjährige "Spiegel"-Redakteur Norbert F. Pötzl "nachprüfbare Fakten" gegenüber, auch auf Basis der erst seit kurzem zugänglichen Treuhandakten, etwa Vorstandsprotokollen. Ein spannendes Buch hat er geschrieben, gut lesbar, mit zahllosen Belegen im Anhang.
Warum also ist die DDR-Wirtschaft kollabiert, wenn nicht wegen des "Ausverkaufs" an Westdeutsche? Pötzl antwortet so: Wegen der von den DDR-Bürgern gewünschten Währungsunion mit einem 1:1-Kurs, der die ostdeutschen Produkte so verteuerte, dass sie unverkäuflich wurden; wegen des desolaten Zustands eines Großteils der ostdeutschen Industrie; und, nicht unwichtig, wegen der Zahlungsunfähigkeit der bisherigen Handelspartner in den ehemals sozialistischen Staaten.
Ja, es gab unter den Käufern etliche Hallodris, der Normalfall seien die aber nicht gewesen, so der Autor. Unterm Strich wurden die gegebenen Versprechen eingehalten, sogar übererfüllt: Die Arbeitsplatzgarantien wurden insgesamt um mindestens zwölf Prozent übertroffen, die Investitionszusagen sogar um mindestens 23 Prozent.
Zwar wurden in der Tat die meisten Großbetriebe an Westdeutsche verkauft, weil Ostdeutschen das Kapital zum Kauf fehlte, aber Gaststätten, Geschäfte, Apotheken, Buchhandlungen, Kinos seien fast ausschließlich an Ostdeutsche verkauft worden. Und sehr viele mittelgroße Betriebe wurden von den bisherigen Managern übernommen.
Ja, die Kaufkraft in Ostdeutschland ist elf Prozent geringer, aber der Autor erinnert daran, dass auch im Westen die Einkommensunterschiede teilweise erheblich sind. Gelsenkirchen liegt im Einkommensranking sogar noch hinter ostdeutschen Städten. Und daran ist nicht die Treuhandanstalt schuld.
Dass die Jahre nach 1989 für sehr viele Menschen extrem belastend waren, bestreitet Pötzl keineswegs. Aber es sind nicht alle arbeitslos geworden. An die 30 Prozent haben ihre bisherigen Arbeitsplätze behalten, und immerhin 60 Prozent waren auch Mitte der 90er noch in ihrem bisherigen Beruf tätig, wenn auch vielleicht in einem anderen Betrieb – eine bemerkenswerte berufliche Kontinuität, findet er.
Deutlich grenzt sich der Autor gegen Petra Köpping ab, die sächsische Staatsministerin, die das Buch "Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten" geschrieben hat. Darin kritisiert sie vor allem die Treuhandanstalt und sieht den grassierenden Hass auf "Ausländer" als Folge der als traumatisch erlebten Entwürdigungen der Nachwendezeit. Diesen Bogenschlag findet Pötzl "atemberaubend". Es leuchte ihm nicht ein, warum Menschen, die einmal unverschuldet arbeitslos wurden, deshalb fast 30 Jahre später gegen Geflüchtete hetzen.
Ein spannendes Buch, gut lesbar und mit zahllosen Belegen im Anhang.
Norbert F. Pötzl: "Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen"
Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, 2019, 255 Seiten, 22 €