Christa Wolf in ihrem Element
Tim Wegner
22.12.2010

Moralisch hochsensibel, das Gute wollend, wahrhaftig und dabei immer selbstkritisch - so hat sich Christa Wolf ihr Leben lang selbst gesehen. Nun aber, mit 80 Jahren, verabschiedet sie sich öffentlich über 400 Seiten lang und durchaus mühsam von diesem perfekten Selbstbild. Denn es gibt Dinge, die hatte sie über die Jahre einfach vergessen. Nichts ganz Schlimmes, stellt man als Leserin fest, eher das, was sich viele vorwerfen können, die sich, vor allem als junge Menschen, engagiert haben. Kaltschnäuzig sei sie als junge Kommunistin, mit Anfang 20, gewesen, dogmatisch, natürlich im Besitz der Wahrheit, auch naiv.

Schon einmal hat Christa Wolf die eigene Vergangenheit erkundet, in "Kindheitsmuster" etwa den unbedingten kindlichen Glauben der 1929 Geborenen an den Führer. Nun ist ihr Leben in der DDR dran. Anfang der 90er Jahre hatte sie ein Stipendium in Los Angeles, kurz zuvor hatte sie ihre Opferakten gelesen, und es gab auch, für sie überraschend, eine schmale so genannte Täterakte. Hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen? Hatte sie nicht immer nur das Beste gewollt, ein Gemeinwesen, in dem es allen gut geht?

Diesen Fragen setzt sich Christa Wolf aus. Keineswegs furchtlos. Vielmehr wird sie gebeutelt von Alpträumen, Ängsten, Schmerzen, auch körperlichen. Weinerlichkeit werfen manche dem Buch vor. Aber das gehört nun mal dazu, wenn man schildern will, wie mühsam Erinnern, Einsicht und Verstehen sind. So wie sie sich während ihres Stipendiums den verschiedensten Menschen öffnet, von Esoterikerinnen bis zur zweiten Generation emigrierter Juden, öffnet sie sich den Personen, die sie auch einmal gewesen ist. Übrigens lebt die Autorin in diesem Buch auch eine gewisse Selbstironie aus, zeigt einen Humor, den man aus anderen Büchern noch nicht so kennt.

Es ist ein vielstimmiges Buch geworden, in dem die West-Leserin en passant auch einiges aus den Anfangsjahren der DDR erfährt, etwa von den Motiven der Gründer und von den Konflikten, die viele politisch engagierte Menschen fast zerrissen. Auch Christa Wolf, die schon früh des "ideologischen Kapitulantentums" bezichtigt wurde, die 1976 den offenen Brief gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mitunterschrieben hatte und die um diese Zeit die bittere und zugleich befreiende Einsicht gehabt hatte: "Nein. Ich will nicht dasselbe wie die." Warum sie dennoch nicht ausreiste, auch davon handelt dieses Buch.

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