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Wie gerät jemand in eine radikale Gruppe? Nicht indem man die Person einer Gehirnwäsche unterzieht, also sein Denken mit Gewalt ändert. Sondern indem man die Person über Emotionen an sich bindet, also eine Beziehung herstellt.
Nützlich dafür: Manipulationsstrategien. Eine davon ist "Love Bombing". Sobald eine Person ein erstes Interesse gezeigt hat, wird sie überschüttet mit Aufmerksamkeit, Bewunderung und sozialer Wärme. "Wir mögen Menschen, die uns mögen", so beschreibt Dana Buchzik diesen Mechanismus. Erst recht wenn sich andere als unsere Seelenverwandten ausgeben. Wenn einem dann noch eine edle Mission angeboten wird, mit der man alle Probleme der Welt lösen kann und dann als Held oder Heldin dasteht – tja, dann ist man dabei.
Ganz nah: querdenkende Cousinen
Häufig übrigens sind es nicht Fremde, die einen Menschen in die radikale Gruppe hineinüberzeugen, sondern es sind erstaunlich oft bereits radikalisierte Leute aus dem Freundes- oder Verwandtenkreis, die am Ende den Ausschlag gaben.
Dana Buchzik war selbst in eine Sekte hineingeboren worden. Sie habe seit ihrer Jugend alles verschlungen, was es an Erkenntnissen aus der Radikalisierungsforschung gibt, sagt sie. Heute ist sie Journalistin, hält Seminare zum Umgang mit Onlinehass und mit Verschwörungserzählungen und berät ehrenamtlich Menschen, die nicht mehr wissen, wie sie mit Verschwörungsgläubigen im nahen Umfeld umgehen sollen.
Wer allerdings bei diesem Buch auf einen direkt umsetzbaren Ratgeber mit Checklisten hofft, wird enttäuscht. Zu Recht enttäuscht, denn Ausstiege aus radikalen Gruppen sind hochkomplexe Vorgänge, langwierig noch dazu.
Ein Faktencheck nützt da nichts, Liebe schon
Aber tatenlos zusehen muss man als Freundin oder Verwandter trotzdem nicht. Aus der Erforschung von Ausstiegsprozessen bei Islamisten oder auch Rechtsextremen weiß man, wie wichtig alte Verbindungen sein können. Das waren bei einem Islamisten zum Beispiel die alten Freunde aus Schulzeiten, die ihm Briefe in die Haft schrieben, die Liebe der Mutter und auch die Hilfe durch Organisationen, die er bislang verachtete (hier war es Amnesty International).
Was heißt das für Laien, wenn sie mit Radikalen umgehen? Deeskalieren und Brücken bauen, sagt Buchzik. Einen Faktencheck zu schicken, nütze nichts, Beziehung schon. "Überzeugung funktioniert nur über Beziehung."
Weil man das nicht allein schaffen kann, sollte man sich Verbündete suchen. Mit Angehörigen und gemeinsamen Freunden ein Treffen vereinbaren und Infos und Ideen zusammentragen: Was hat der Person vor ihrer Radikalisierung Mut gemacht und Trost gespendet, wenn es ihr nicht gut ging? Was war ihr wichtig im Leben? Welche Funktion könnte die Radikalisierung in ihrem Alltag erfüllen – geht es eher um soziale Zugehörigkeit oder eher um den Wunsch, sich wichtig zu fühlen? Je besser man die Lage einorden könne, desto wirksamer könne man Hilfestellungen anbieten.
Nicht einfach: sich freundlich abgrenzen
Für den Umgang mit radikalen Bekannten, Kolleginnen und Nachbarn allerdings empfiehlt Buchzik eine andere Strategie, denn zu diesen Menschen hat man eine geringere emotionale Bindung, man wirkt also auch weniger überzeugend. Hier solle man sich deutlich abgrenzen, mit Wertschätzung natürlich. Eine Herausforderung. Das könnte sich zum Beispiel so anhören: "Ich verstehe, dass dir dieses Thema sehr wichtig ist und dass du diese Welt zu einem besseren Ort machen willst. Du gehst deinen Weg, und ich respektiere diesen Weg, auch wenn ich selbst einen anderen gehe. Und ich wünsche mir, dass du das genauso respektierst." Man könnte dann vielleicht ein Signalwort vereinbaren, mit dem man einander zu verstehen geben kann, wenn man gerade einen Themenwechsel braucht.
Lesen Sie hier, wie Sie mit Radikalisierten in Familie und Freundeskreis umgehen können
Im letzten Kapitel packt Dana Buchzik ihre Expertise zum Thema "Hass im Netz" aus – sie hat ja bei der Europarats-Kampagne "No Hate Speech" mitgearbeitet. Wichtiger Tipp: Niemals Trollen antworten! Hier wird das Buch dann auch sehr konkret. Ein Erste-Hilfe-Koffer für den Fall eines Shitstorms rundet das Buch ab.
Dana Buchzik: "Warum wir Familie und Freunde an radikale Ideologien verlieren – und wie wir sie zurückholen können"
Rowohlt Verlag 2022, 256 Seiten, 18 €