Es ist, als habe sich die Zeit nicht hinauf getraut. Dorthin, wo sich der Tu-juksu-Gletscher an die Gipfel schmiegt, die sich hinter Almaty hochrecken. In den Permafrost, ins Eis, das die Menschen ewig nennen, weil ihm die Zeit nichts anhaben kann.
"Ich bin Naturwissenschaftler, kein Poet", sagt Konstantin Grigorjewitsch Makarewitsch mürrisch. Er kennt seinen Gletscher zu gut, um ihn zu verklären. Es sei Sachlichkeit geboten. Also: Das Wort "Permafrost" ist irreführend. Seit 1973 war die Massenbilanz nur in vier Jahren positiv. In den letzten 50 Jahren sind 38,2 Millionen Kubikmeter Wasser abgeflossen. Wenn es so weitergeht, wird es den Tujuksu in 120 Jahren nicht mehr geben. "Das tut mir weh."
Es ist die vertrackte Beziehung zwischen Mensch und Schöpfung
Konstantin Grigorjewitsch Makarewitsch, Gletscherforscher in Almaty, das früher Alma-Ata hieß, ist 87 Jahre alt. Der Tujuksu, ein Gletscher im Sailiski Alatau, ist etwa 3000 Jahre alt. Sie kennen sich seit fast 70 Jahren, der Forscher und sein Gletscher. Makarewitsch hat schon einen Herzinfarkt hinter sich. Der Tujuksu ist in den letzten 50 Jahren um 700 Meter geschmolzen. Beiden bleibt nicht mehr viel Zeit. Dank Makarewitsch gehört der Tujuksu zu den wenigen Gletschern auf der Welt, die schon lange kontinuierlich vermessen werden, immens wichtig für die Klimaforschung. Das, was Makarewitsch vom Tujuksu erzählt, wird bleiben von den beiden, wenn sie nicht mehr sein werden. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und es ist die vertrackte Beziehung zwischen Mensch und Schöpfung, zwischen zweien, die sich schinden und schützen. Auch wenn Makarewitsch das anders ausdrückt, nämlich in Fakten.
Makarewitsch, dessen Falten seine klaren, robusten Züge nicht haben weich werden lassen, sitzt in seinem Arbeitszimmer, das zugleich Schlafzimmer ist, und erzählt. Von damals, als er zum ersten Mal zu einem Alpinismuskurs aus Russland nach Kasachstan kam. Von der Größe und Pracht des Gebirges, von Gletscherspalten, Gebirgskämmen und Schneestürmen auf dem fast 2,5 Quadratkilometer großen Tujuksu. Und davon, wie sie vor der Basishütte sitzend Beethoven und Mozart auf ihrem Kofferplattenspieler hörten. "Ich habe mich in die Berge verliebt."
Also studierte er Geografie und sah zu, dass er den Krieg überlebte. Von dem erzählt er dann erst später. Erst mal wurde er Bergführer. Und eines Tages gab ihm "der Akademiker Palgov", ein renommierter Glaziologe, einen Auftrag mit auf den Weg: Miss die Schneehöhe, außer dir kommt sonst keiner dort hoch. Aus Makarewitsch, dem Bergführer, wurde das Mitglied der "Berufsvereinigung des Geographischen Instituts der Akademie derWissenschaften der Kasachischen Sowjetischen Sozialistischen Republik": Makarewitsch, der Glaziologe.
Er stapfte und kletterte über den Tujuksu, auf seinen Schultern drei Meter lange Holzstäbe, die er an bestimmten Stellen ins Eis bohrte. Bei seinem nächsten Streifzug notierte er, wie weit sie aus dem Eis schauten und wie sie sich verschoben hatten - daraus errechnete er Mächtigkeit, Masse und Massenbilanz, Bewegung, Fläche und Form des Tujuksu.
Es ging um die kommunistische Sache
Das tat er nicht dem Tujuksu zuliebe. Es ging um die kommunistische Sache, um die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Gewinnung von Neuland, um die Sicherung der Ernährungsbasis der Sowjetvölker, um die Nutzbarmachung von Hydroenergie zum Wohl der Arbeiter und Bauern. Denn große Teile Kasachstans wären fruchtbar, wenn sie nicht so trocken wären, und Gletscher sind Wasserspeicher. Man muss sie kennen, um sie zu nutzen.
Es waren die erfolgreichsten Jahre der Sowjetunion: Siegreich aus dem Großen Vaterländischen Krieg hervorgegangen, hatte sie den Terror Stalins überstanden, der 1953 gestorben war. Und vier Jahre später vom kasachischen Baikonur aus einen Satelliten namens Sputnik in die Dunkelheit gesandt, um das All zu erforschen. Eine technologische und propagandistische Meisterleistung - erst 1969 hatten die Amerikaner den Schock verwunden hatten und einen der Ihren zum Mond geschickt. Doch nicht nur dem Klassenfeind musste die Sowjetunion ihre Überlegenheit beweisen, auch der Natur. Und dem eigenen Volk. Pik Lokomotive, Pik der Jugend, Pik der Partisanen - die Namen der Gipfel, die den Tujuksu einrahmen, zeugen noch heute vom Selbstbewusstsein und Ehrgeiz der Sowjetunion. Und davon, dass die Politik bis hinauf zum Gletscher reichte.
Wie alle paar Tage ist Makarewitsch mit dem Vorortbus ins Büro der Kasachischen Akademie der Wissenschaften gefahren. Der Mann mit widerborstigem Haarkranz und krausen Brauen sitzt inmitten jüngerer Kollegen. Müde, aber konzentriert, den Kopf in die Linke gestützt, schaut er auf den Computermonitor vor ihm. Er rutscht ein wenig nach vorn, denn das Hören fällt ihm schwer. Sie schauen eine Art Propagandadoku von 1957, "Auf den Gletschern des Sailiski Alatau": Schwarze Flecken huschen durchs Bild, kleine Filmfehler. Steppenpferde, mit Kisten beladen, staken durch Mulden und Matsch. Wanderer versinken bis zu den Oberschenkeln im Schnee, bevor ihre Schuhe Tritt fassen. Makarewitsch im Karohemd voran, stoisch, aufrecht, mit unbewegter Miene. Sie schaufeln den Pferden den Weg frei. Bratschen drohen, Schnitt. Jetzt im Basislager: Die Sonne scheint. Junge Hunde und Katzen tollen herum. Frauen lachen, spielen Volleyball, junge Männer sitzen mit nacktem Oberkörper vor Bergpanorama, spielen Schach, fahren Ski. Geigen jubeln. "Die Pullover haben wir extra für den Film ausgezogen", sagt er. "In Wirklichkeit hätte uns die Sonne verbrannt." Makarewitsch hat das Drehbuch geschrieben.
18 000 Kubikmeter Wasser, das vor kurzem noch Gletscher war
Als Makarewitsch 1973 nach seinem Gletscher sah, brachte er seltsame Zahlen von dort zurück. Hinweise darauf, dass der Tujuksu unten im Zehrgebiet, wo der Gletscher ausläuft, mehr Wasser abgab, als er oben im Nährgebiet Schnee aufnimmt ein statistischer Ausreißer, dachte Makarewitsch damals. Und trieb weiter Stäbe ins Eis. 1979 hörte er zum ersten Mal dieses neue Wort: Klimawandel. Und schnappte einen Begriff auf: "anthropogene Ursachen" - empirisch nicht erhärtet, intervenierende Variablen unberücksichtigt, instabiler Trend, urteilte Makarewitsch. Inzwischen gibt es diese Seen am Gletscherrand zwischen Eis und Stein. Die meisten tragen keine Namen, es sind auch zu viele. See Nummer neun zum Beispiel. Im Jahr 2000 entstanden, 2007 acht Meter, ein Jahr später elf Meter tief. 18 000 Kubikmeter Wasser, 0,3 Grad Celsius, Wasser, das vor kurzem noch Gletscher war - "Der Grund ist der Mensch", davon ist Makarewitsch heute überzeugt.
Er hätte nicht gedacht, dass es einmal so kommen würde: Dass der Mensch dem Gletscher zur Gefahr werden würde, nicht umgekehrt. Und erzählt von dem Mann, der ein Schneebrett lostrat, das ihn mitriss. Von dem 18-Jährigen, der eine Abkürzung nahm und den der Tujuksu verschluckte. Und von der jungen Frau, die ein Stein am Kopf traf, klein wie eine Streichholzschachtel und tödlich. Wie sie hießen, weiß Makarewitsch nicht mehr, er weiß bloß: "Sie waren alle unvorsichtig."
Konstantin Grigorjewitsch, warum ist Ihnen nie etwas passiert? "Wer sich richtig benimmt, dem kann in den Bergen nichts passieren, außer vielleicht ein Erdbeben."
Dabei weiß er noch, wie sich der Nebel auf einer ihrer großen Touren im Tien-schan-Gebirge anschlich, wie er ihnen Stein, Spur und Schnee und den Horizont darüber nahm, ihnen nichts ließ als weiße Dunkelheit und sie zwang, auf dem nächstgelegenen Felsen zu übernachten. Wie sie hofften, wieder aufzuwachen auf ihrer Insel inmitten gefrorenen Wassers. Wie sie ein andermal eingeschneit waren und der Hubschrauber Fleisch und Brennholz abwarf. Wie sie ein Paket erst nach drei Jahren fanden und das Fleisch immer noch schmeckte.
Angst hatte er nur, als der Talisman verloren ging
Konstantin Grigorjewitsch, hatten Sie nie Angst? "Ja, als der Talisman verloren ging." Im Krieg war das, er hatte sich einen runden Anstecker an die Brust geheftet, darauf war ein Eispickel zu sehen, im Hintergrund Berge, das Abzeichen für "Alpinisten erster Stufe". Als er in den Krieg zog, hatte er einen Vorsatz mitgenommen, mehr noch: eine Hoffnung. Wenn er lebendig wiederkäme, würde er die Prüfung zum "Alpinisten zweiter Stufe" ablegen, wenn nicht gar zum "Meister des Sports". Und dann sah er im Herbst 1944 irgendwo in Weißrussland an seiner Uniform herunter, fand seinen Anstecker nicht mehr und war sicher: "Jetzt ist es um mich geschehen." Als der Krieg aus war, wollte er nichts wie hinauf, wurde Bergf hrer und 1952 tatsächlich "Meister des Sports".
Konstantin Grigorjewitsch, was ist der Tujuksu für ein Lebewesen? Er mag solche Fragen nicht. Er mag es lieber handfest. Geodätische Messungen mit Hilfe des Phototheodoliten zum Beispiel, die sind handfest. Wörter wie "Schöpfung", "Wunder", "Ewigkeit" kommen ihm nicht über die Lippen. Nur einmal, in der zufriedenen Müdigkeit nach einem üppigen Mahl und nach genügend Zeit zum Schweigen, sagt er: "Der Tujuksu ist freundlich. Streng. Er ist launisch, sprunghaft, unvorhersehbar. Man kann nie wissen. Er kann Menschen in Spalten sperren. Er ist den Menschen nicht immer wohlgesinnt. Er kann jemanden bestrafen, wenn seine Regeln verletzt werden. Der Mensch ist dort wie eine kleine Fliege."
Konstantin Grigorjewitsch, hat Sie der Gletscher Demut gelehrt? "Nein. Das wäre gegen meine Natur. Er hat mich Willen gelehrt. Disziplin. Kameradschaft, Mut."
Plötzlich war der Kalte Krieg zu Ende. Und der Verfall begann erst richtig. Dach und Boden des Basislagers hätten ausgebessert gehört, die Ofenhitze hatte den Permafrost darunter schmelzen lassen, so dass der Boden zur Raummitte hin sank, wo der Ofen stand - gefährlich, wenn man Wodka getrunken hatte. Gehälter wurden nicht mehr gezahlt, Messdaten nicht mehr vollständig erhoben. Und der Traktor auf dem Tujuksu begann zu rosten. Sein Motor hatte einst als Schlepplift sowjetische Skispringer zur Schanze hochgezogen. Seine Einzelteile lagen auf dem Tujuksu herum. Warum? "Die offizielle oder die wahre Version?", fragt ein Kollege, der häufig droben ist. Die offizielle bitte. "Fremde Leute kamen und haben Unfug getrieben." Und die wahre? "Welche aus der Gegend wollten den Traktor ausschlachten, brachten aber die Teile nicht von der Stelle, vor allem der Motor war zu schwer, jetzt liegt alles herum und rostet."
Makarewitsch ging in Rente. Und stand weiter frühmorgens auf, sah weiter von der Straße hinter der Wohnsiedlung im Tal aus zu den Bergen hinauf, aß weiter getrocknete Pflaumen, Rosinen und Walnüsse zum Frühstück, wie vor jeder Expedition.
2002, da war er 80, fragten ihn die Kollegen, ob er ins Institut zurückkehren wolle. Weil er den Gletscher nun mal am besten kannte. Weil so viel Arbeit anstand und weil sie Kontinuität brauchten in diesen Jahren, als alles brüchig wurde. Er sagte Ja. Weil ihm noch so viel Kraft in den Knochen steckte, weil er das Geld brauchen konnte und weil ihn der Gletscher nicht losließ.
Heute stehen GPS-Geräte, Laptops, Flachbildschirme im Büro, Großformatdrucker für Landkarten im Keller. Der Klimawandel hat das Interesse ausländischer Glaziologen und Forschungsetats auf den Tujuksu und das Tienschan-Gebirge gelenkt. Und das Interesse der Regierung. Denn Kasachstan fehlt es an Wasser. Die Oberlieger der großen Flüsse, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan, sind reichlich damit gesegnet und stauen es. Im Winter lassen sie es zur Energiegewinnung ab, im Sommer brauchen sie es zum Anbau von Baumwolle. Kasachstan bekommt nicht genug und ist froh um jeden Gletscher als natürlichen Wasserspeicher auf eigenem Staatsgebiet.
Makarewitsch nimmt den Bus vom Institut nach Hause, fährt vorbei an parkenden Porsche Cayennes, an einem Schaufenster, in dem Nicole Kidman Parfüm empfiehlt, und an Bürogebäuden aus Spiegelglas. Vorbei auch an dicken Frauen mit Kopftüchern, die am Straßenrand Äpfel feilbieten, und an Plattenbauten mit einer Sowjetpatina aus Ruß. Wenn der Smog nicht zu dick ist, kann er im Hintergrund die Gipfel des Tienschan-Gebirges erkennen. Der Tujuksu ist darin eingebettet, sein alter Tummelplatz, Gegner, Sinnstifter. Makarewitsch, der alte Streuner, Forscher und Umweltschützer, wünschte, er könnte noch etwas für ihn tun.
Wenigstens bleibt dem Tujuksu erspart, was seinem Nachbarn, dem Bogdanovich, bevo rstehen kön nte: Makarewitschs Schwiegersohn, der Geograf Vladimir Uvarov, untersucht derzeit, ob es sich noch lohnt, eine Seilbahn hinauf zu bauen. 30 bis 40 Jahre, so schätzt er, könnte der Bogdanovich noch herhalten. "Kasachische Agentur für angewandte Ökologie", so heißt sein Arbeitgeber.
Seien Frau hat er in den Bergen gefunden
Zu Hause wartet Makarewitschs andere Liebe auf ihn, seine Frau Walentina. In den Bergen hat er sie damals gefunden. Er war Expeditionsleiter, sie war Teilnehmerin und drei Monate später seine Frau. Eine Frau aus Sibirien, die Kälte verträgt, eine Russin, eine Chemikerin, eine Schönheit. Und außerdem eine, die seine Liebe zum Gebirge wenn nicht teilte, so doch verstand. Fünf Monate im Jahr war er oben, ließ sie mit zwei Kindern in der Stadt zurück und in der Ungewissheit, ob er heil wiederkommen würde. Doch der Tujuksu hat seinen Makarewitsch nicht fallen lassen. Dabei hat der ihn nicht wenig gereizt: Hat ihn zu Propagandazwecken benutzt. Ist mit Expeditionen über seinen Rücken getrampelt. Hat Stäbe in seinen Rücken getrieben. Hat die Zeit hinaufgetragen. Der Tujuksu scheint es ihm verziehen zu haben. "Es gab nur eins, was er wirklich wollte: in die Berge", sagt Walentina Makarewitsch. "Das hat mich umgehauen, als ich ihn traf. Ich habe ihm deshalb alle anderen Schwächen vergeben." Sie sind seit 58 Jahren zusammen. "Wir sind geduldig miteinander und verzeihen einander. Weil wir uns immer geachtet haben." Wie das so ist in langjährigen Beziehungen.