chrismon: Frau Koelbl und Herr Turner, Sie arbeiten täglich mit Bildern. Gibt es ein Bild, das Sie für Ihr Leben beeinflusst hat?
Sebastian Turner: Besonders im Gedächtnis sind mir die, bei denen ich noch weiß, wo ich an dem Tag war. Als die Mauer fiel. Und als die Flugzeuge in die Twintowers in New York rasten.
Herlinde Koelbl: Sicher gibt es Bilder, die einen das ganze Leben lang begleiten. Die Bilder, die hinter uns hängen, gehören dazu. Das sind Ikonen. Zum Beispiel das von Willy Brandt, wie er niederkniet in Warschau. Das war ein dramatisches Ereignis, voller Emotionen. Keiner hatte damit gerechnet. Auch der Soldat, der 1961 beim Mauerbau in Berlin in den Westen springt. Das war ein Moment der Geschichte.
chrismon: Und heute? Alle reden von der Bilderflut - kann sich ein einzelnes Bild da überhaupt noch durchsetzen?
Koelbl: Ich würde sagen, 7/8 der Bilder verschwinden wieder, so wie Regentropfen auf den Boden fallen. Es bleiben nur die in Erinnerung, die mit einer tiefen Emotion verbunden sind, oder mit Schicksalen. Doch diese Kraft haben nur wenige Bilder.
Turner: Es werden viel mehr Bilder produziert als früher, weil es keinen Aufwand mehr darstellt: Jeder hat fast immer eine Kamera dabei, doch unser Speichervermögen hat sich kaum geändert. Dadurch wählen wir immer strenger aus - was kein Fehler ist.
chrismon: In Italien wurde mit dem Foto eines magersüchtigen Mädchens geworben. In Köln machen Plakate Furore, die mit Folterbildern wie aus Abu Ghraib für ein Theaterstück werben. Müssen Bilder heute härter sein, um durchzudringen?
Turner: Nein, die beiden Ausnahmen täuschen ganz extrem. Sie nennen da ausgerechnet zwei Beispiele, die ganz und gar nicht dem Durchschnitt entsprechen. Ich könnte Sie mit Versandhaus-Katalogen überhäufen, die uns freundlichste Normalität liefern. So wie alles, was sich an die Breite wendet ...
Koelbl: ...glatt ist, extrem glatt!
Turner: Ihre Fotos, Frau Koelbl, sind kaum katalogfähig.
Koelbl: Das wollte ich auch nie sein. Was mich an der Werbung stört, ist, dass man meistens den kleinsten Nenner wählt. Da werden Tausende von Euro ausgegeben für Nichtssagendes. Und das verpufft.
Turner: Ich unterschreibe das alles ...
chrismon: Also alles viel zu brav? Sie hätten gern noch mehr magersüchtige Models?
Turner: Natürlich nicht. Das konkrete Bild aus Mailand ist übrigens eine Anklage und als solche sehr gelungen. Es führt uns vor Augen: Unser Schönheitsideal hat schlimme Konsequenzen.
chrismon: Frauen werden in der Öffentlichkeit oft entwürdigend dargestellt ...
Turner: Da sollten Sie mal mit Ihrem eigenen Berufsstand drüber reden, denn da liegt das Problem. Die Verrohung und die Objektdarstellung der Frau ist überwiegend ein journalistisches Phänomen. Im Werbebereich beobachten wir normalerweise genau das Gegenteil.
chrismon: Models zeigen weniger nackte Haut? Oder mehr?
Turner: Die Frauen in der Kosmetikwerbung wenden sich in aller Regel an Frauen. Deswegen wäre das Dümmste, sie zu entwürdigen. Natürlich gibt es Spoiler-Hersteller oder Tattoo-Studios, deren Werbung unterirdisch und dämlich ist - aber sie sind die extreme Ausnahme.
chrismon: Also gibt es kein Problem?
Turner: Wir haben ein kleines Problem in der Werbung und ein größeres in der Gesellschaft.
Koelbl: Wir reden über ein gesellschaftspolitisches Problem. Der Mensch war einmal das Ebenbild Gottes. Der Mensch war ein Teil von Gott. Dann kamen Ikonen, dann kamen Bilder. Und heute muss man sich schon fragen: Was für ein Menschenbild haben wir eigentlich? Was für ein Frauenbild? Frauen werden als tüchtig und emanzipiert dargestellt - und andererseits als Verlockung eingesetzt. Dazu kommt die allgegenwärtige Gewalt. Sie wird uns in jedem Krimi täglich frei Haus geliefert. Es ist überhaupt nichts Besonderes mehr, einen Menschen umzuschießen. Und irgendwann vermischt sich das, was ich täglich sehe, mit der Realität.
chrismon: Sie, Frau Koelbl, haben mal einen Fotoband gemacht über dicke Frauen. Wollten Sie damit ein Statement abgeben? Auch Dicke sind schön ...
Koelbl: Nein, ich mache in dieser Form keine Statements. Mein Ziel war es, Frauen zu finden, die zu ihrem Körper stehen. Wenn jemand nicht zu seinem Körper steht, ob nun dick oder dünn, dann haben diese Bilder keine Ausstrahlung. Wichtig ist ihr Charisma, gerade das ist das Entscheidende. Später ist daraus eine ganz andere Geschichte geworden. Dicke und dann auch noch nackte Frauen waren bis dahin öffentlich nicht existent.
Turner: Diese Idee wurde von der Werbung aufgegriffen. Heute gibt es viel beachtete Werbung, die ganz normale, also auch dickere Frauen zeigt. Die wirbt damit, dass Echtheit schöner ist.
chrismon: Ja, eine Kampagne. Was ist mit den anderen Frauen in der Werbung? Da ist doch jedes Foto bearbeitet, oder?
Turner: Ja. Wenn Sie heute eine Frauenzeitschrift in die Hand nehmen, dann sehen Sie kein einziges unbearbeitetes Foto - weder im redaktionellen, noch im Anzeigenteil. Kein einziges. Aber Manipulation gab es immer schon. Denken Sie nur an den wegretuschierten Trotzki auf den Bildern mit Lenin.
Koelbl: Aber früher brauchte man dazu Könner, die mussten ihr Handwerk beherrschen, um die Figuren rauszuretuschieren. Heute ist es dank Photoshop leichter. Jeder kannn es machen.
Turner: Die Bildbearbeitung ist demokratisiert. Aber das hat auch sein Gutes. Die Leute glauben nicht mehr alles, was sie auf Fotos sehen. Die Wahrheit von Fotos wird heute angezweifelt und sie hätte schon immer angezweifelt werden sollen.
Koelbl: Wir kennen ja diese Bilder von Sarkozy, wo ihm die Fettröllchen wegretuschiert wurden, in einer Zeitung ja, in der anderen nicht. Und bei Angela Merkel wurde der Schweißfleck mal gezeigt, mal nicht. So was ist heute eine Alltäglichkeit geworden.
Turner: Die wird doch rauf und runter fotografiert, mal vorteilhaft, mal weniger. Die Geschichte mit dem Schweißfleck war der vorauseilende Gehorsam eines Bildjournalisten.
Koelbl: Gerade bei Frau Merkel bin ich anderer Ansicht. Ich habe das sehr aufmerksam verfolgt, da ich sie für mein Buch sehr oft und viele Jahre hintereinander selbst fotografiert habe. Das war schon erstaunlich, wie man sie zu Anfang ihrer Karriere immer so negativ mit diesen leicht hängenden Mundwinkeln gezeigt hat. Doch plötzlich, vor der Bundestagswahl wurden die Bilder immer schöner. ..
Turner: Es wurden andere ausgewählt. Oder sagen Sie, der "Stern" habe Fotos retuschiert?
Koelbl: Zum "Stern" kann ich nichts sagen. Ich weiß von einem Angela-Merkel-Porträt von mir, das in einer Zeitung schmeichelhafter abgedruckt war.
Turner: Das hätte ich nicht erwartet. In der Mode, ja, sicher, aber im politischen Journalismus?
chrismon: Frau Koelbl, in Ihrem Band "Spuren der Macht" gibt es auch sehr ausführliche Interviews. Was ist wichtiger - das Wort oder das Bild?
Koelbl: Natürlich ist das Bild wichtiger. Es ist das Bild, das uns unmittelbar anspricht. Mit seinen Emotionen, seiner Aussagekraft. Das Wort geht erst mal über den Intellekt. Und es gibt so viele Geschehen, von denen wir vor allem das Bild in Erinnerung haben, aber nicht das Wort. Trotzdem gibt es viele meiner Arbeiten, die ohne Texte nicht denkbar wären. Sowieso lese ich mich immer sehr grundsätzlich in jedes Thema ein. Lesen ist für mich ganz entscheidend, um etwas zu verstehen, was ich dann wiederum ins Bild mit einbringen kann.
chrismon: "Dahinter steckt immer ein kluger Kopf" - das ist das Motto einer Werbekampagne, die Ihre Agentur, Herr Turner, vor vielen Jahren ins Leben gerufen hat. Was war zuerst da - der Satz oder die Fotoidee?
Turner: Der Spruch ist schon 50 Jahre alt.
Koelbl: Wo kommt der her?
Turner: Er wurde in den 50er Jahren im "FAZ"-Verlag geprägt. Wir hatten nur den Einfall, den Satz mit echten klugen Köpfen zu bebildern.
Koelbl: Interessant. Überlegen Sie doch mal, wie viele Werbekampagnen es schon gegeben hat und wie wenige davon im Gedächtnis bleiben. Diese Kampagne hat natürlich auch was. Ein Geheimnis, eine Symbolik - und sie hat eine emotionale Bildaussage, exakt zugeschnitten auf die Person, um die es geht. Ich sage ja: Ein Bild bleibt nur hängen, wenn es mit starken Emotionen verknüpft ist.
Turner: Ja, wenn es Bedeutung hat. Das Foto von den einstürzenden Twin Towers - für die Amerikaner symbolisiert dieses Bild den War on America, die Bedrohung des Amerikanischen Traums. Dabei gab es schon viele andere schlimme Unfälle. Ich kenne ein Bild, das ist 50 Jahre älter. Da ist eine Propellermaschine in das Empire State Building gestürzt. Das war ein Unfall oder ein Selbstmörder. Das Bild ist uns nicht im Gedächtnis geblieben, weil es nicht die Bedeutung hat. Ein Unfall, keine Botschaft.
chrismon: Welche Rolle spielt die Auswahl der Bilder?
Koelbl: Ich habe neulich mit einer Agentur gesprochen und gefragt, welche Bilder vom Irak-Krieg abgerufen werden. Es wurde mir gesagt, es sind eher die Bilder, die heroisierend sind, die Mannhaftigkeit und Stärke zeigen. Nicht das Elend. Das finde ich verfälschend. Ich würde jedem Soldaten Erich Maria Remarque zu lesen geben. Damit er weiß, wie grauenvoll Krieg ist.
chrismon: Nun gibt es auch bilderlose Themen.
Turner: Die haben es sehr, sehr schwer durchzudringen. Bringen Sie mal ein Anliegen wie Föderalismusreform, Gesundheitskostendämpfung oder demografische Entwicklung in die Medien ganz schwer ohne Bilder.
chrismon: Wie ist das mit der Kirche? Die Katholiken haben den Papst und die Pracht. Fehlen der evangelischen Kirche Bilder?
Turner: Einer der größten Kommunikationsrevolutionäre war Martin Luther. Aus meiner Sicht muss die evangelische Kirche heute sagen: Für uns gelten nicht die Prinzipien von Martin Luther, so wie sie damals waren. Sondern unser Anspruch sollte sein: Das, was Martin Luther in seiner Zeit gewesen ist, was wäre das heute ...
chrismon: Mehr Worte? Mehr Bilder?
Turner: Würde Luther heute leben, wäre ihm diese Frage vermutlich wurscht. Er würde wohl fragen: Wie erreiche ich die Menschen? Dem Volk aufs Maul zu schauen heißt heute: das Medienverhalten der Menschen verstehen.
chrismon: Und?
Turner: Was für Luther in seiner Zeit kommunikativ revolutionär war, das ist der Anspruch für heute. Da kam einer her und hat auf einmal das wichtigste Buch der Zeit vom unverständlichen Latein ins allgemeinverständliche Deutsch übersetzt. Wenn Sie so anfangen zu denken, dann kommen Sie zu kommunikativen Lösungen, die originell, ergreifend und zeitgemäß sind.
Koelbl: Vielleicht sind das dann Mittel, die nicht so religiös sind, sondern weiter gehen. Zum Beispiel wie das Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom. Das zeigt keine religiösen Bilder.
Turner: ...großartig!
Koelbl: ...aber schafft doch eine Stimmung, die in die Tiefe geht, die einen meditativ anregt, sich mit dem Religiösen auseinanderzusetzen.
Turner: Und das zeigt: Wir müssten viel weiter gehen mit den Bildern ...
chrismon: ...bewegten Bildern?
Turner: Ja, natürlich bewegten Bildern. Wenn Sie plötzlich Deutsch sprechen, obwohl es vorher immer Latein war, dann müssen Sie doch heute sagen: Ich nehme das beste und umfassendste Medium. Das kann Youtube sein oder SMS. Mir ist der Gedanke eines medialen Limits fremd. Wenn man ein Anliegen hat, muss man alle sinnvollen Wege nutzen.
chrismon: Noch mal: Braucht unsere Kirche bessere Bilder?
Turner: Sie braucht mehr Kommunikation, und da gehören Bilder dazu. Der Fehler liegt in der Zurückhaltung, nicht in der gelegentlichen Kargheit. Bewusste Kargheit ist gut, schlecht ist die kommunikative Zurückhaltung. Dazu gehört zum Beispiel auch ein Hausbesuch des Pfarrers. Ich habe immer das Gefühl, als wenn hier nur eine Rille einer Schallplatte besprochen wird. Dabei gibt es unendliche Möglichkeiten.
chrismon: Ärgern Sie sich als Werbeprofi darüber?
Turner: Ich sehe es mit Bedauern, wenn die Kirche ihre Chancen nicht nutzt. Ich sag es Ihnen mal in unserem zugegebenermaßen etwas albernen Jargon: Sie hat ein starkes Branding, das Kreuz. Mit ihren Flagshipstores, den Kathedralen, dominiert sie die Städte. Und dann haben Sie überall Outlets in den Gemeinden, ja sogar ein regelmäßiges Eventmarketing an jedem Sonntag. Doch es fehlt die nach außen gerichtete Leidenschaft.
chrismon: Frau Koelbl, viele Fotografen verwenden in ihren Arbeiten biblische Motive: das Abendmahl, die Maria. Sind Sie auch von solchen Bildern geprägt?
Koelbl: Ja sicher, wer einmal katholisch erzogen ist, und das sind viele Künstler, der bekommt diese Bilder nie wieder los. Sie tauchen immer wieder auf. Das ist wie ein Brandzeichen.
chrismon: Gibt es ein Bild, das Sie unbedingt selber machen oder verbreiten würden?
Turner: Ich würde mir eher ein Ereignis wünschen und davon dann die Dokumentation. Ich denke da beispielsweise an einen möglichen Frieden in Nahost, an eine Versöhnung der Iraker - da werden einem die Wünsche nie ausgehen.
chrismon: Und Sie Frau Koelbl, wen würden Sie gern noch mal fotografieren?
Koelbl: Wer mich interessiert hätte, das wäre Fidel Castro gewesen. Eine außergewöhnliche Figur. Trotz aller Versuche, ihn zu stürzen, hat er sich immer gehalten. So einen Menschen im Bild und natürlich auch im Wort zu zeigen - ja, das hätte ich gerne gemacht.