Modernes Spendenmarketing
Friedrich Bodelschwingh, der Sozialreformer, war ein genialer Bettler. Er betrieb modernes Fundraising - vor über 100 Jahren
Tim Wegner
18.01.2011

Das müsste sich heute mal eine Spendenorganisation trauen. "Du bist sehr reich!", schreibt Friedrich von Bodelschwingh vor über 100 Jahren an die Leser seiner Hauspostille "Der Bote von Bethel". Und weiter: "Wie steht es mit deinem Dankopfer?" Ziemlich direkt konnte er sein, der Chef der heute sogenannten "v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel" in Bielefeld. Und vielleicht kann so selbst­bewusst nur auftreten, wer selber aus reichem Hause kommt. In eine west­fälische Adelsfamilie 1831 geboren, war Bodelschwingh, Sohn eines preußischen Ministers, Spielkamerad des kleinen Kronprinzen Friedrich Wilhelm, lernte rudern, reiten und fechten. Und so wie heutzutage Großspendensammler auf dem Golfplatz ihre Kunden betreuen, beherrschte auch Bodelschwingh das adelige Networking: Er wusste, wo sie wohnen, die Reichen, und wie man sie anspricht.

Und war dabei so erfolgreich, dass Bundespräsident Theodor Heuss ihn später den "genialsten Bettler, den Deutschland je gesehen hat" nannte. Friedrich von Bodelschwingh beherrschte die ganze Klaviatur des Fundraisings. Heute sind die v. Bodelschwinghschen Stiftungen das größte diakonische Unternehmen in Europa.

Zwei Dinge machen ihn zur Ausnahmefigur: Er sammelte viel Geld ein für Randgruppen, die für Spender bis heute un­attraktiv sind. Und er stellte es besonders fantasievoll und geschickt an. Denn, Original­ton Bodelschwingh: "Neue große Nöte erfordern neue mutige Gedanken."

Für einen Teil seiner Zöglinge, die "Epileptischen", war es noch vergleichsweise leicht, Spenden einzuwerben. Aber für die "Arbeitslosen, die Trinker und die Blöden" war es schwer. Die "Bruderhäuser", in denen obdachlose Wanderarbeiter betreut wurden, kamen bei den Spendern nicht gut an. "Bruderhäuser genießen nicht die Gunst christlicher Freunde und noch weniger die Gunst der Welt. Niemand schenkt ihnen etwas", klagte Bodelschwingh. Geschenkt bekamen sie allerdings auch von ihm nichts. Er nahm zwar alle "Tippelbrüder" auf - "Weist mir ja keinen ab!" - aber sie mussten sich nützlich machen. "Arbeit statt Almosen", heute würde man sagen: "Fordern und fördern."

Er pflegte die Großspender genauso wie die Kleinspender

Wie hat er es geschafft, für seine schwierige Klientel Geld einzusammeln? Indem er sich weder auf Kirche noch Staat verließ. Und indem er die Großspender pflegte, aber auch die Kleinspender nicht vergaß. Der Witwe, die 6000 Mark spendete, versprach er, eine Kapelle nach ihrem Mann zu benennen. Den Großindustriellen Krupp gewann er und den Johanniter­orden. Sie erreichte er mit modernem Spendenmarketing: Ein Werbebüro, er nannte es "Dankort", übernahm die direkte Ansprache und den Dank. Diesen Dank bekam aber auch jeder Kleinspender, selbst wenn er nur einen einzigen Taler gespendet hatte. Ida von Bodelschwingh, die treue Ehefrau, schrieb jedem Spender einen persön­­lichen Brief. Und zerbrach - dies ist die dunkle Seite des unermüdlichen Einsatzes - am Ende unter ihrer Arbeitsbelastung und unter dem Hyperengagement ihres Mannes. Schwer depressiv, starb sie mit 59 in der Psychiatrie.

Im "Boten von Bethel", der in der sensationellen Auflage von 500 000 erschien, gab es auch, was man heute "Testimonials" nennen würde: Da schilderten arme Witwen, wie sie sich einen Pfennig Spende vom Mund abgespart hatten. Friedrich von Bodelschwingh wusste um die PR-Wirkung: "Wo solche kleine Gaben kommen, da fehlen auch die großen nicht."

Die bekanntesten Kleinspender waren die "Pfennigvereine": Immer zehn Leute gründeten einen Verein und gaben sonntags fünf Pfennige ab. Was 1871 bescheiden anfing, summierte sich bereits im Jahr 1883 auf 15 098,13 Mark. Das Prinzip "Brosamen" zieht sich durch sein gesamtes Werk: Alte Kleider wurden gesammelt, hergerichtet und verkauft, alte Uhren und bis heute Tonnen von Briefmarken. "Sammelt die übrigen Brocken, dass nichts umkomme", so ein Leitspruch des findigen Bethel-Chefs, der heute wahrscheinlich E-Bay- oder Oxfam-Chef wäre. Und bestimmt sonntagabends bei Anne Will säße, denn er muss zwar streng, aber ungeheuer geistreich gewesen sein. Reich starb der Adelssohn vor 100 Jahren, aber Reichtum verstand der fromme Mann so: "Reich an unverdienten Wohltaten, Leibes und der Seele."