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Es ist ein Zustand unverdienten Glücks, in dem ich lebe. Dazu gehört unter anderem: Ich habe Arbeit und bin mit dem, was ich tun darf und soll, größtenteils zufrieden. Aber jedes Glück hat auch seine schattige Seite. Das wurde mir bewusst, als ich neulich in einem Zug saß, der zu meinem Ziel fast drei Stunden länger unterwegs war als geplant. Da ich häufig unterwegs bin, habe ich in der Regel genügend Lektüre bei mir (und mindestens ein Sudoku-Heft), um mir die Zeit zu vertreiben. Auf dieser Bummeltour von Dresden nach Frankfurt war es leider nicht so. Noch war der Main lange nicht in Sicht, und ich hatte die mitgebrachte Tageszeitung ebenso durch wie das Magazin der Bahn und die letzten beiden Zahlenrätsel gelöst. Da fiel mein Blick auf einen Zeitungsteil, den ich übersehen hatte: den Stellenmarkt.
Die einheitlich gestalteten Annoncen auf der ersten Seite zierten allesamt das Etikett einer Personalberatungsagentur, die natürlich nicht so hieß, sondern „Specialists in Sales & Marketing Recruitment“. Und schon die erste Anzeige zeigte mir eine Welt, von der ich bisher leider ausgeschlossen bin. Gesucht wurde eine „Führungspersönlichkeit mit Lifestyle“. Chef mit Lebensstil, hmm – aber mit welchem? Mit einem asketischen oder einem hedonistischen, mit einem genussorientierten oder sportlichen, mit einem pedantisch-ordentlichen oder hochchaotischen, einem religiös geprägten oder agnostisch grundierten? Gibt es Menschen, fragte ich mich, ob leitende Angestellte oder Sperrmüllsammler, die keinen Lebensstil haben?
Im weiteren Text wurde mir eine Offenbarung zuteil, die mir geradezu den Atem nahm. Von Bewerbern wurde dort „ein kompromissloses Bekenntnis zu zeitgemäßem Design“ gefordert. Was Design meint, war mir einigermaßen klar: ein bewusst entworfenes Äußeres. Schon schwieriger war es mit dem „Zeitgemäßen“ im Zusammenhang mit dem kompromisslosen Bekenntnis. „Zeitgemäß“ bedeutet: Etwas wird angepasst, erhält seine Form auf ein aktuelles Erfordernis hin, beschreibt also etwas Relatives.
Womöglich hätten sich gemeine Handlungsreisende beworben
Wie soll man sich nun zu einem stetiger Veränderung unterworfenen Äußeren ohne Bereitschaft zu Zugeständnissen bekennen? Überzeugt Ja sagen zu etwas, was morgen schon wieder ganz anders aussehen kann? An etwas glauben und sich einer äußeren Gestalt mit religiösem Eifer verpflichten? Welche Autorität entscheidet, was zeitgemäß ist? Ein Rat der Weisen? Ein Designerkonzil? Der Markt? Wir alle? Jeder für sich? Ein Papst? Fragen über Fragen.
Der Himmel öffnete sich, als ich an den gegenwärtigen Papst dachte; die richtige Übersetzung für ein „kompromissloses Bekenntnis zu zeitgemäßem Design“ in die Sprache dieser Führungspersönlichkeit mit vatikanischem Lifestyle würde vermutlich so lauten: „Wir erwarten die vollständige Unterordnung des Bewerbers unter die Diktatur des Relativismus!“ Unglaublich! Welche Wucht des Denkens steckte in dieser einen Zeile, welche geradezu monastische Weite und Tiefe des Anspruchs!
Erst jetzt erschloss sich mir die „dynamische Unternehmenskultur“, von der weiter unten im Text die Rede war, und die „zukunftsweisende Personalpolitik“, die „Innovationsstärke, die spannenden Entwicklungsmöglichkeiten“ in den Reihen dieses „führenden Players“. Wem es gelang, in dieses Elitekorps der Moderne aufgenommen zu werden, der durfte sich als gesalbt mit einem Tropfen jenes besonderen Öles fühlen, wie es die Priesterkasten archaischer Tempel waren.
Mit der Einforderung des religiösen Gehorsams gegenüber dem Zeitgeist standen die Aufgaben, die zu erfüllen waren, mit einem Male in einem ganz anderen Licht: Führungsverantwortung für fünf Mitarbeiter im Außendienst, Betreuung von Ansprechpartnern im Fachhandel und in Warenhäusern, Konditionsverhandlungen mit dem Zentraleinkauf, hohe Reisetätigkeit. Wäre nur dies in der Anzeige zu lesen gewesen, es hätten sich womöglich gemeine Vertreter und Handlungsreisende beworben, ohne jeden Schimmer für die spirituelle Transzendenz der Herausforderung, triviale Sünder gegen den Zeitgeist!ausforderung, triviale Sünder gegen den Zeitgeist!