Die neue Studie zeigt: Schweigen, Wegschauen und institutionelles Versagen sind keine Einzelfälle, sondern wiederkehrende Muster – in Schulen wie in Kirchen
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Sexualisierte Gewalt
Die Gewalt ist im System
Ob in der Schule oder in der Kirche: Die Muster und Strukturen von Missbrauch gleichen sich. Was fehlt, ist eine flächendeckende Kultur der Aufarbeitung, findet Franziska Hein
Redakteurin beim Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt am Main (Foto vom 09.06.2020).Heike Lyding/epd
04.12.2025
3Min

Ein bis zwei Kinder pro Schulklasse in Deutschland – so oft geschieht sexualisierte Gewalt nach einer Schätzung der Unabhängigen Beauftragten gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen Kerstin Claus. Um sich das Ausmaß zu veranschaulichen, kann man an seine eigene Schulzeit zurückdenken. Gab es Anzeichen für sexualisierte Gewalt bei Mitschülerinnen und Mitschülern? Ich kam bei meiner Reflexion auf mindestens zwei Schulkameraden, bei denen ich es vermutete und mittlerweile auch weiß.

Gerade wurde eine neue Studie zu sexualisierter Gewalt in Schulen vorgestellt. Und die Ergebnisse erinnern sehr an das, was man auch aus den Kirchen und anderen Bereichen der Gesellschaft kennt: Es wird geschwiegen, weggeschaut und verharmlost.

In die Untersuchung flossen 133 Berichte von Betroffenen und Zeitzeug*innen ein, deren Missbrauchserfahrung teils mehrere Jahrzehnte, teils nur einige Jahre zurücklag. Darunter sind Übergriffe durch Lehrer oder Mitschüler. Andere Betroffene berichteten von der Reaktion des schulischen Umfelds auf Missbrauch etwa in der Familie.

Die qualitative Studie zeigt, egal wo der Tatort für sexualisierte Gewalt ist, die Muster und Strukturen ähneln sich: Erstens sind es immer die Betroffenen, die die Gewalt offenlegen, die ihnen angetan wurde. 2010 etwa brachten die Schilderungen von Missbrauchsbetroffenen im Berliner Canisius-Kolleg, einer katholischen Schule, den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ins Rollen, auch weil der Jesuitenpater und Schulleiter Klaus Mertes ihnen Gehör schenkte. Ebenso machten Betroffene aus staatlichen und kirchlichen Heimen, die in den 1960er und 70er Jahren Gewalt erfuhren, ihre Geschichte selbst öffentlich.

Wer mit Betroffenen spricht, erfährt, wie einschneidend diese Gewalterfahrungen vom jüngsten Kindesalter an sind: Diejenigen, die die Gewalt überleben, haben meist für immer mit den Folgen zu tun. Manche können keine erfüllten Beziehungen führen, manche sind berufsunfähig oder können ihren Traumberuf nicht ausüben, weil sie nicht in der Lage waren, eine Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Am fatalsten kann aber der Selbsthass auch auf den eigenen Körper sein, den manche entwickeln und der zum Suizid führen kann.

Zweitens erleben Betroffene, egal ob in der Kirche oder in der Schule, von dem institutionellen Umfeld oft Ablehnung. Ihnen wird gar nicht erst geglaubt, ihre Geschichten werden heruntergespielt, unter den Teppich gekehrt, oder es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Betroffene nennen das oft den Missbrauch nach dem Missbrauch.

Drittens nutzen die meist männlichen Täter Abhängigkeitsverhältnisse aus. Sie bauen Vertrauen zu oft schon sozial geschwächten Opfern auf, das sie dann zur Anbahnung ihrer Taten missbrauchen. Später unterdrücken sie das Opfer mit der eigenen Autorität, für die sie ihren Beruf – als Lehrer, Sporttrainer oder Pfarrer – ausnutzen. Sprüche wie "Dir wird eh keiner glauben" hören Betroffene oft.

Viertens erfahren die Täter oft noch den Schutz ihrer Institution und ihres Umfelds. "Der doch nicht" – heißt es dann oft. Oder Taten werden aus Angst vor dem "schlechten Ruf" vertuscht. Das zeigt auch die Studie zu sexualisierter Gewalt in der Schule. "Kollegiale Loyalität hatte offensichtlich Vorrang", sagte Studienautorin Edith Glaser bei der Veröffentlichung.

Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Es braucht Aufarbeitung in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sexuellen Missbrauch gibt es überall. Ein Blick auf die evangelische und katholische Kirche der letzten 15 Jahre zeigt, dass Aufarbeitung ein höchst schmerzhafter und konfliktreicher Prozess ist – und ein Prozess, in dem Fehler gemacht werden.

Aber das sollte niemanden davon abhalten, zu handeln. Es gibt 32.800 allgemeinbildende Schulen in Deutschland. Jede Schule kann schon heute eine Ansprechperson und ein Gewaltschutzkonzept etablieren, eine Kultur des Hinsehens fördern. Dazu gibt es bereits das Projekt "Schule gegen sexuelle Gewalt" der Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten. Zur Aufarbeitung gehört allerdings auch, sich des Ausmaßes des Problems erst einmal bewusst zu werden, Betroffenen zuzuhören und auch den persönlichen Blick zu schärfen. Dazu wird diese Studie hoffentlich beitragen.

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