Es hat gedauert, bis ich Lisa vertraute. Sie war halt eine ältere Frau, und ich verstand nur die Hälfte von dem, was sie sagte. Dabei wollte ich sie ja haben! Bei uns an der Schule bekommen Schüler vor dem Abschluss jemanden zugeteilt. Einen Erwachsenen, der für dich da ist, dir bei den Hausaufgaben hilft. So jemanden wollte ich auch. Bei der Bewerbung musste ich aufschreiben, wie dieser Mensch sein sollte: Lieb sollte er sein, älter, wegen der Erfahrung, und vor allem gut in Mathe und Deutsch.
Dann stellte mir die Frau vom Mentorenprojekt Lisa vor. Sie war voll locker, lächelte mich viel an – und doch war es sehr komisch, schon die Kleidung, Hosen mit weiten Beinen! Ich schaue eher nach der Mode, nach dem, was gerade im Schaufenster hängt. Lisas Sachen habe ich da noch nie gesehen. 40 oder 50 dürfte sie sein. Mein Opa, nur etwas älter als sie, ist ganz anders, viel ruhiger. Lisa hat zwar auch schon viel durchgemacht, aber sie lacht immer. Irgendwie verhält sie sich wie ein Teenager. Verglichen mit Lisa ist mein Opa ziemlich schlapp.
Ihre Art zu reden fand ich anstrengend. Sie benutzt so viele Fachbegriffe. Sie hat sie mir zwar immer wieder erklärt, trotzdem habe ich ihren Beruf lange nicht verstanden: Sie ist an der Universität, hat einen Doktor, ist aber keine Ärztin, sondern Ethnologin? Nicht immer alles abnicken, sondern nachfragen, bis man es verstanden hat, das hat sie mir beigebracht, das mache ich in der Schule inzwischen auch. Und Ethnologin, das weiß ich jetzt, ist was mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturen.
Jedenfalls war unser Anfang schwer. Ich hatte auch so wenig Zeit für unsere Termine in der Bibliothek, weil ich mich zu Hause oft um meine fünf Geschwister kümmern muss. Meine Eltern arbeiten viel. Deshalb kam ich häufig zu spät, und nach einer halben Stunde musste ich schon wieder weg. Aber allmählich wurde ich besser in der Schule.
Lisa macht auch Ausflüge mit mir. Ich war bei ihr zu Hause in Kreuzberg, zwei Zimmer, Altbau, voller Bücher. Und ihren Bruder haben wir besucht, in Zehlendorf, da war ich noch nie, da leben ja nur Reiche, bei dem, was da alles so auf der Straße steht. Die Autos könnten sie hier in Neukölln nicht einfach so stehen lassen. Ich dachte: Du kommst aus einem Ghetto und gehst in eine friedliche Gegend, ruhige Erwachsene, saubere Straßen. In dem Haus des Bruders hatten sie ein schönes Klavier, so eines hätte ich auch gerne. Bislang kann ich nur „Für Elise“ von Beethoven, das hat mir meine Cousine beigebracht, bei ihr spiele ich auf dem Keyboard.
Inzwischen ist Lisa wie eine große Schwester. Wenn ich ein komisches Wort raushaue, muss sie lachen und ich mit. Und wir reden viel über meine Familie. Sie gibt mir Tipps, wie ich ruhig bleiben kann, wenn ich mich angegriffen fühle.
Lisa war die Schule auch wichtig, sie hat so vieles gelernt, im Studium und auch sonst. Da ging zwar ein halbes Leben für drauf, aber ich merke, solche Menschen haben dann doch, wie soll ich sagen, mehr Intelligenz. Sie redet klug wie ein Professor, und ihre Ratschläge helfen. Sonst habe ich ja keine Vorbilder, VIPs taugen nicht dazu, die lächeln gekünstelt in die Kameras, ob die wirklich glücklich sind? Dagegen, wie sich Lisa für Dinge interessiert, wie sie jetzt einen Film über Afrika dreht, da kann man sagen: Sie hat etwas aus ihrem Leben gemacht. Sie hat andere Sachen durchlebt als meine Mutter, die auch ein Vorbild für mich ist, so viel, wie sie geschafft hat, nach dem Krieg in Bosnien hierherkommen, die Kinder großziehen, arbeiten und so.
Ich kuck mir manches von Lisa ab. Wie sie beim Reden die Hände bewegt, so Kreise macht, das gefällt mir. Oder ihr Gang, so würde ich auch gern gehen können. Sie wackelt dabei mit dem Kopf, als ob sie die ganze Zeit zum Rhythmus einer Musik laufen würde, wie die Schwarzen in der Bronx. Hoffentlich geht sie nicht weg, so jemanden wie Lisa gibt es bestimmt nicht noch mal. Aber erst einmal treffen wir uns weiter, denn jetzt, nach dem erweiterten Hauptschulabschluss, will ich auch noch die mittlere Reife schaffen.
Komisch und anstrengend fand Mirsada ihre hochgebildete Mentorin anfangs. Wie eine Fremde aus einer anderen Welt
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