Softversion, gekürzt. Spürt man die Strophen auf, die die Gesangbücher auslassen, dann hört man von Angst und Not, Kreuz und Tod, Krieg und Schuld. Doch, das passt zum Fest der Liebe!
Stille Nacht“, sagte der Kantor, „spielen wir an Weihnachten nicht in unserer Kirche. Das wollen wir den Menschen doch lieber für ihre privaten Feiern überlassen.“ Wenn es ein Weihnachtslied gibt, das gebildete Menschen für den Ausbund religiösen Kitsches halten, dann „Stille Nacht“, im Jahr 1816 von dem Hilfspriester Joseph Mohr gedichtet und 1818 von dem Dorflehrer Franz Gruber im Salzburgischen mit einer Melodie versehen.
Während im evangelischen Milieu das Lied vom „holden Knaben im lockigen Haar“ als katholisch par excellence gilt, tauchten weder Text noch Noten dazu bis 1975 in Diözesan-Gesangbüchern auf. Doch bis dahin hatte „Stille Nacht“ längst seinen weltweiten Siegeszug als Nummer eins der Weihnachtshitparade hinter sich gebracht, auch ohne die Unterstützung der offiziellen Kirchen und der Intellektuellen. Dabei blieben allerdings drei Strophen auf der Strecke, die mit den Nummern 3 bis 5.
Dass sich auf „heilige Nacht“ „einsam wacht“, „o wie lacht“ und „kund gemacht“ reimen, wissen vermutlich alle. Diese Endreime stammen aus den erzählenden, idyllischen Strophen, die einen Teil des Publikums zu Tränen rühren und dem anderen als Überdosis Puderzucker Schmerzen bereiten.
Ganz anders hört sich zum Beispiel der Text der vierten Strophe an: „Stille Nacht! Heilige Nacht! / Wo sich heut alle Macht / Väterlicher Liebe ergoss, / und als Bruder huldvoll umschloss / Jesus die Völker der Welt! / Jesus die Völker der Welt!“
Passt nicht so recht ins Kitschidyll, dieser Text. Und ist doch sehr aufschlussreich, wenn man die Zeit im Auge hat, in der Joseph Mohr ihn schrieb: 1816, unmittelbar nach den napoleonischen Kriegen. Die Friedenssehnsucht ist mit Händen zu greifen. Und sie wirkt erstaunlich aktuell. Sollte man „Stille Nacht“ in der vorliegenden, originalen Version tatsächlich den Menschen für ihre familiären Geschenk¬abende überlassen? Man sollte nicht (obwohl sie auch unter dem häuslichen Christbaum erfrischend wirken würde).
Wenn man erst einmal damit angefangen hat, die Texte der bekanntesten Weihnachtslieder über die so oft abgenudelten Passagen hinaus genauer zu lesen, kommt man auch in anderen Fällen aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Dabei muss man sich gar nicht besonders anstrengen. So findet man zum Beispiel in kirchlichen Gesangbüchern -Strophen zur Nummer zwei der Kitschhitparade, die es in sich haben. Wer würde vermuten, dass das Liedchen, das mit der Aufforderung „Ihr Kinderlein, kommet“ beginnt, in Strophe Nummer fünf folgende Wendung nimmt? „O betet: Du liebes, du göttliches Kind, / was leidest du alles für unsere Sünd! / Ach hier in der Krippe schon Armut und Not, / am Kreuze dort gar noch den bitteren Tod.“ Das sollte man die Menschen nun wirklich nicht bei Vanillekipferln und Christstollen summen lassen. Oder?
Der Text von „Ihr Kinderlein, kommet“ stammt von Christoph von Schmid, einem der erfolgreichsten katholischen Schriftsteller in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zweihundert Jahre älter ist „Ich steh an deiner Krippen hier“, gedichtet von Paul Gerhardt, gerade mal fünf Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, der große Teile Mitteleuropas entvölkert und verwüstet hatte.
Paul Gerhardts Krippenlied enthält wie eigentlich alle seine Schöpfungen die dunklen wie die hellen Seiten menschlicher Existenz und ihrer Gotteserfahrungen. Es geht um Trost, um Gnade und Vergebung, gerade an Weihnachten, angesichts von Not und Elend und nicht, indem man die Augen davor verschließt. In der fünften Strophe des Krippenlieds klingt das so: „Wann oft mein Herz im Leibe weint / und keinen Trost kann finden, / da ruft mir’s zu: ‚Ich bin dein Freund, / ein Tilger deiner Sünden. / Was traurest du, mein Brüderlein? / Du sollst ja guter Dinge sein, / ich zahle deine Schulden.‘“
Wer die dunklen Seiten an Weihnachten nicht ausblendet, sondern sie im Sinne der Dichter in das Festgeschehen einbezieht, wird die Erfahrung machen, dass Weihnachten dadurch um kein Stück weniger fröhlich ausfallen muss. Im Gegenteil:Die Idee von Weihnachten, die älter ist als der Beschluss, diesen Wintertag als Geburtstag Christi festzusetzen, gewinnt an Substanz. Der dramatisch eingesetzte Kontrast verdeut¬licht die Erlösung und Befreiungserfahrung, die mit der Geburt dieses Kindes verbunden ist. Die Menschwerdung Gottes beginnt an Weihnachten, erreicht ihr vorläufiges Ende im Kreuzestod Jesu und mündet an Ostern durch die Auferstehung in Hoffnung für alle. Weihnachten ist die erste Etappe auf dem Weg der Heilserfahrung, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es ist der Augenblick, in dem sich Göttliches und Menschliches berühren, in dem sich der Himmel öffnet. So meint es auch Friedrich von Spee in seinem ¬Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf“.
Der gleichen Absicht folgen Klaus-Martin Bresgott und das Athesinus Consort Berlin mit einer CD, die sie für die edition chrismon eingespielt haben. Es geht um Klarheit und Weite, die sich in den vergessenen Strophen bekannter Advents- und Weihnachtslieder finden lässt. Klarheit und Weite wirken befreiend. Nicht, dass leise rieselnder Puderzucker an sich etwas Schreckliches symbolisieren würde, nur die Überdosis fordert Frisches und Unverbrauchtes.
In klarer Luft kann es dann auf ganz andere Weise zu Tiefe, Besinnlichkeit und Wärme kommen. Auf eine Art, die auch Menschen zufriedenstellen wird, die sich nicht durch Süße und Vordergründigkeit für Tage oder Stunden in den immer selben Zustand veredelter Infantilität davonmachen wollen oder können.