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Wer in den vergangenen Jahren Ostergottesdienste besucht hat, dürfte nicht nur einmal ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz gehört haben, das so beginnt:
„Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage…“ Es ist so beliebt, weil es die Ostergeschichte ins Heute zieht und mit diesseitigen Erfahrungen verbindet.
Ich bin nun auf ein anderes Gedicht dieser ansonsten eher vergessenen Dichterin gestoßen, das mir den Sinn neu für den Karfreitag geöffnet hat.
Auch es beginnt mit einer alltäglichen Erfahrung: Man vergisst so viel, doch einiges bleibt in der Erinnerung haften, das sich aber nicht zu einem Ganzen verbinden lässt – Schönes und Schreckliches, Kleines und Größtes. Auch Jesus wird erinnert und vergessen.
Etwas bleibt haften, nämlich ein Widerspruch: ein Mensch ohne Macht, der gerade deshalb Vollmacht hat. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen.
Aber er ist es, weshalb Menschen heute noch an ihn denken, nicht nur am Karfreitag.
Ich vergesse so viel
Das meiste
Nur einiges nicht
Nicht die englische Tänzerin
Mit den roten Schuhen
Nicht den brennenden Bergahorn
Vor der Eigernordwand
Auch nicht die Toten
Mit Kalk übergossen
Wie sie glänzten im Mondlicht
Zeit schöner Engel
Mit dem Kranz im Haar
Und der Pistole im Gürtel
Im Briefkasten liegt ein Zettel
Verlaß das Haus
Und ein anderer
Jesus war bei dir
Jesus wer soll das sein?
Ein Galiläer
Ein armer Mann
Aufsässig
Eine Großmacht
Und eine Ohnmacht
Immer
Heute noch
P.S.: Das Foto zeigt die Installation „Forms of Love“ des Künstlerinnen-Duos Peles Duo, das gerade in St. Matthäus, der Berliner Kunstkirche, wächst – Stück für Stück. An zwei Tagen der Woche während der Passionszeit arbeiten die beiden Künstlerinnen an Ton-Flächen, die sie dann mit einer innigen, kräftigen Umarmung in eine Form bringen, anschließend stabilisieren und trocken lassen, dann brennen. In der Osterzeit sollen diese tiefschwarzen „Formen der Liebe“ mit Blumen gefüllt und zum Blühen gebracht werden.
M.L.Kaschnitz
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Lieber Herr Claussen, ein wirklich sehr berührendes Gedicht. Danke !