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Es ist wie mit der Musik: Während es zu meiner Jugend noch Mühe und Geduld brauchte, bis man ein bestimmtes Kunstwerk zu Gesicht bekam – als Postkarte, Dia, Kunstdruck oder in einem Buch –, muss man heute nur einmal klicken, schon hat man es vor sich. Und welche Wege musste ich früher gehen, um ein bestimmtes Lied zu hören! Heute erledigt Spotify das schneller, als ich auf die Uhr schauen kann. Das ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, was diese epochale Veränderung – in weniger als einer Generation – mit uns macht, wie sie unseren Blick auf Bilder verändert. Was verlieren wir eigentlich bei diesem Überangebot? Jetzt könnte ich tiefschürfende Überlegungen wagen, die mich allerdings selbst überfordern würden. Deshalb erzähle ich lieber von einem Besuch in Florenz.
Das Zentrum der Stadt war übervoll. Man kam kaum über den Domplatz. Doch hatte man sich über den Ponte Vecchio auf die andere Seite des Arno gedrängelt, konnte man frei durch stille Gassen schlendern. Bis wir vor der Kirche Santa Maria del Carmine standen. Dort wollte ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllen und die Fresken der Brancacci-Kapelle besichtigen. Leider war es mir nicht gelungen, von zu Hause aus vorher ein Ticket und einen Termin zu buchen. Mehr als ein dutzend Mal hatte ich es vergeblich versucht. Unsicher, ob wir hinkommen würden, traten wir in den menschenleeren Kreuzgang. Am Schalter erfuhr ich jetzt, warum ich keinen Erfolg gehabt hatte: Die Kapelle war für Forschungszwecke eingerüstet. Aber in drei Stunden könnten wir an einer der wenigen Führung teilnehmen – die Kapelle war nur drei Tage die Woche geöffnet. Also gingen wir spazieren, einen Kaffee trinken, dann war es so weit.
Die Brancacci-Kapelle ist weniger berühmt und weniger belagert als der Dom oder die Uffizien, aber nicht weniger bedeutsam. Denn hier hatte Masaccio, ein frühverstorbenes Junggenie der Renaissance, gemeinsam mit seinem älteren Kollegen Masolino Fresken geschaffen, mit denen die neuzeitliche Kunst beginnt. Zum ersten Mal wandte er konsequent die Zentralperspektive an, zudem gelang ihm ein bisher unbekannter existentieller Ausdruck.
Normalerweise kann man dies aber nicht recht sehen, weil die Kapelle zu eng und die Fresken zu hoch sind. Doch jetzt war ein Gerüst aufgebaut, weil diese Bilder untersucht werden sollten. Wir durften hinauf und konnten die Bilder von Nahem und – jetzt passt die Floskel einmal – auf „Augenhöhe“ betrachten. Wir sahen die Körnigkeit der Farben, die Umrisse der Bildelemente, die zarten Verläufe, die keine Reproduktion einfangen kann. Wir teilten den Raum, den sie ausfüllten, wurden fast so etwas wie ein Teil von ihnen. Direkt ins Gesicht erzählten sie uns ihre Geschichten. Jesus, Petrus, die geheilten Bettler, die auferweckte Tote waren zum Greifen nah. Der unaussprechliche Schmerz, den Eva und Adam empfunden haben mussten, als der Engel sie aus dem Paradies vertrieb, stand ungefiltert vor uns.
Das war ein großes, unvergleichliches Glück. Wir waren dankbar, dass wir die Mittel zu dieser Reise hatten. Wir waren aber auch dankbar dafür, dass diese Bildbetrachtung keine Selbstverständlichkeit gewesen war.