Das Wort - Ester und die Zahlenmystik
Schriftsteller Finn Job über Zahlensalat am Telefon
AHAOK
Finn Job über das biblische Buch Ester
Ester und die Zahlenmystik
Finn Job, gottloser Schriftsteller, über das Buch Ester, das jüdische Fest Purim und Hitler – und ein altes Rätsel
Privat
19.07.2023
Bibelstellen
Bibelbuch
Kapitel / Verse
9,5

So schlugen die Juden alle ihre Feinde mit dem Schwert und töteten und brachten um und ­taten nach ihrem Gefallen an denen, die ihnen feind waren. (Ester 9,5)

Als schwuler Spross einer evangelikalen Familie habe ich nicht nur gute Erinnerungen an das Christentum, doch darüber zu schreiben wäre langweilig, zumal das Schöne an meiner Erziehung die Geschichten sind, die für immer in meinem gottlosen Schriftstellerhirn herumspuken werden. Schon als Kind zog ich das Alte Testament dem Neuen vor. Denn auch wenn mir damals der Begriff fehlte, erschien mir die Bergpredigt als zu sentimental. Ich liebte die Epen, die Heldentaten von David, Judith und Gideon, die Wunder, mit Hilfe ­derer es ihnen gelang, ihre Feinde in die Flucht zu schlagen. Ich liebte sogar die Geschichte von Ester und ­ihrem Sieg über Haman, der das Volk Israel ausrotten wollte und zur Strafe samt seiner zehn Söhne erhängt wurde. An diesen Sieg, bei dem noch weitere 75.000 Antisemiten ermordet ­wurden, erinnert das jüdische Verkleidungsfest Purim.

Privat

Finn Job

Finn Job, geboren 1995 in Hannover, lebt als Schriftsteller in Berlin. In seinem viel ­gelobten Debüt­roman "­Hinterher" spielt eine alte Kirche eine ­tragende ­Rolle.

Kürzlich stieß ich auf einen Artikel über Julius ­Streicher, den Herausgeber des Nazihetzblatts "Der ­Stürmer", und sein Ende in Nürnberg. Von den 24 Hauptkriegsver­brechern wurden bekanntlich nur zwölf zum Tod durch den Strang verurteilt, doch Reichsmarschall Hermann Göring naschte am Zyankali und Martin Bormann glänzte durch Ab­wesenheit. Es blieben also zehn Galgenvögel, von denen Julius Streicher sich besonders würdelos anstellte. Schon auf dem Weg zum Gerüst rief Streicher "Heil Hitler!", die Stufen musste er hinaufgeschoben werden. Oben angekommen sah er gen Himmel und sagte, nun gehe es zu Gott. Dann aber schrie er plötzlich: "Purimfest 1946!"
Anscheinend entgingen Streicher nicht die Parallelen zum Buch Ester. Wie auch? Schon acht Jahre zuvor, bei seiner Rede zur Reichspogromnacht, rechtfertigte er den Pogrom mit Verweis auf das Vergeltungsgemetzel in ebenjenem Buch, immer wieder nutzten die Nazis das entsprechende Datum für besondere Gräueltaten. Bereits zu Beginn der Dreißigerjahre hatten Juden überall in Europa Haman mit Hitler verglichen.

Der Artikel über Julius Streicher berichtete weiterhin von der Lösung eines alten Rätsels, es geht um die Schreibweise der zehn Söhne Hamans in der Megilla, der Schriftrolle, die zu Purim verwendet wird. Die Buchstaben Taf, Schin und Sajn werden traditionell kleiner und der Buchstabe Waw größer als die übrigen geschrieben. Althebräische Buchstaben haben auch Zahlenwerte und die jüdische Zeitrechnung beginnt 3761 Jahre vor der christlichen. Daher war es naheliegend, den Wert sechs des großen Buchstabens als Verweis auf das laufende, sechste jüdische Jahrtausend zu verstehen, und wenn man die Werte der kleinen Buchstaben addiert, kommt man auf die Zahl 707. Das Jahr 707 im sechsten jüdischen Jahrtausend wiederum entspricht dem christlichen Jahr 1946/47.

Um Himmels Willen, die Vorsehung, dachte ich, klappte meinen Laptop zu und wollte mich in den Staub werfen. Doch ich besann mich und rief stattdessen meine Freundin Tina an. Auf meine Eröffnungen reagierte sie anders als erwartet.

"Ihr Fundamentalistenkinder könnt noch so schwul und aufgeklärt werden, letztendlich sucht ihr doch nur nach Gottesbeweisen", rief sie in den Hörer. "Lebt es sich so schlecht in der transzendentalen Obdachlosigkeit? Seit wann bist du denn Zahlenmystiker?"

"Ich, äh . . ."

"Und seit wann versuchst du, in der Schoah ­irgendeinen Sinn zu sehen? Es gibt wahrlich ehrenwertere ­Praktiken für einen deutschen Philosemiten. Du solltest dich ­schämen, Finn." Ich wollte mich gerade reumütig verabschieden, als meine strenge, durch und durch atheistische, aber umfassend gebildete Freundin fragte: "Hatte Haman nicht auch eine Tochter?"

"Ich glaube, die hat sich vergiftet."

Tina begann zu lachen. "Genau wie der dicke, verweichlichte Göring. Es gibt einen Gott", sagte sie und legte auf.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.