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Einen Löwen als Kuscheltier kann sich nur der heilige Hieronymus leisten. Weil er dem König der Tiere einen Dorn aus der Pfote zog, ward ihm dieser zeitlebens zum treuen Begleiter. Ziemlich praktisch, wenn man bedenkt, wie gefährlich so ein asketisches Wüstenleben sein kann. Wobei, mehr als den Lendenschurz und die Studierrolle gibt es für umherziehende Räuberbanden bei Hieronymus nicht abzustauben.
Hier ruht die Rolle rechts auf dem Stein (das schwarze Tintenfässchen ist hoffentlich zugeschraubt, nicht dass der edle Saft verdunstet), während der Heilige sein Haupt auf dem Fell des dösenden Löwen bettet. Wie vertraut die beiden sind: Hieronymus hat den linken Arm lässig über die Hinterläufe des Tieres gelegt. Er liegt wie erschlagen da. Vom zehrenden Asketenleben und ausgreifenden Fußmärschen zeugt der Schmutz an seinen Sohlen. Der Körper sehnig, drahtig, nach heutigen Maßstäben: gut definiert für sein Alter.
Von der Kraft, die dennoch in ihm steckt, zeugt der ungewöhnlich stark strahlende Heiligenschein – nicht der typische, dezente Goldfaden, eher eine grelle Neonleuchte. Und der Löwe erst: Jean-Léon Gérôme malt keine brave Schoßkatze wie sonst in Hieronymus-Darstellungen der Kunstgeschichte, sondern einen bis in die Fellspitzen hinein superrealistischen Löwen. Ein prächtiges, beeindruckendes Tier. Es zeigt die große Kunst des Malers.
Jean-Léon Gérôme war im 19. Jahrhundert ein viel gerühmter Salonlöwe, ein Star auf den Ausstellungen des jährlichen Pariser Salons. Seine opulenten Orient- und Historienschinken galten als malerischer Maßstab der Zeit. Im Hieronymus-Löwen hat sich der Künstler auf extravagante Weise auch ein bisschen selbst verewigt. Mit etwas Grundschulfranzösisch lassen sich die Anspielungen übers Bild hinaus leicht entschlüsseln. Der Künstlername enthält mit Léon den Löwen, mit Gérôme den heiligen Hieronymus. Da kommt zusammen, was zusammengehören soll: Kraft, Stolz, Genie. Einen Minderwertigkeitskomplex jedenfalls scheint der Schöpfer dieses Bildes nicht gepflegt zu haben.
Was das ruhmvolle Nachleben anbelangt, ist ihm der Heilige allerdings um einige Jahrhunderte voraus. Hieronymus gilt als Intelligenzbestie unter den vier lateinischen Kirchenvätern und ist bis heute für seine Vulgata berühmt, seine Bibelübersetzung ins Lateinische. Der Malerstar Jean-Léon Gérôme dagegen musste schon zu Lebzeiten erleben, wie der Kunstgeschmack seiner Zeitgenossen weiterzog und sich dem Expressionistischen und Abstrakten zuwandte. Kein Sinn mehr für den Versuch, die Natur möglichst akkurat auf die Leinwand zu bringen.
Erst in jüngerer Vergangenheit hat die Fachwelt den Künstler neu einsortiert, raus aus der Schublade konservativ-figürlich-überholt, hin zu realistisch-brillant. Wobei sich der Realismus hier nur auf die technische Darstellung als solche bezieht. Im Hieronymus-Bild sind Mensch und wildes Tier ungewöhnlich, ja, unrealistisch harmonisch arrangiert. Dem Bild verleiht das eine genialische Spannung. Oder, wie der Löwe dem Künstler zuknurren würde: gut gebrüllt.