Markus Ewald
Markus Ewald nach seinem Unfall: Was geht, was nicht?
Ines Janas
Portrait
Ein Bürgermeister hört auf
Schwul, evangelisch, parteilos: Markus Ewald war sowieso ein ungewöhnlicher Bürgermeister in Oberschwaben. Aber auch noch mit Rollstuhl? Das war ihm zu viel
Tim Wegner
Ines Janas
31.10.2022
9Min

Neulich war mal wieder so ein Moment, an dem es richtig hart war. Blutfreitag, höchster Feiertag im oberschwäbischen Weingarten, bei der Reiterprozession mit fast 2000 Pferden versammelt sich alles, was in der katholischen Stadt Rang und Namen hat. Eigentlich hätte Markus Ewald jetzt mit seiner Amtskette auf dem Rathausbalkon mit dem rotgoldenen Baldachin gestanden. Endlich wieder eine Prozession, nach zwei Jahren Corona-Pause! Und diesmal sogar mit Frauen – nach 500 Jahren eine Sensation!

Aber an diesem Blutfreitag 2022 saß Ewald im Rollstuhl im ersten Stock seines privaten Hauses, so erzählt er es, und beobachtete hinter der Gardine, wie die Reiterinnen und Reiter morgens im Frühnebel zur Basilika auf dem Martinsberg ritten, mit Zylinder auf dem Kopf und Standarte am Sattel. "Ich war dann ganz still", sagt er, "und traurig. Aber es geht halt nicht. Ich komme ja noch nicht mal mit dem Rollstuhl auf den Rathausbalkon."

Was geht, was geht nicht? "Seit drei ­Jahren frage ich mich das ständig", sagt Markus Ewald, 58. Vor vier Jahren hatte er einen schweren Autounfall. Es geht nicht: aufrecht stehen. Sich selber anziehen, sich im Bett umdrehen, am Strand mit Schwung ins Wasser springen. Letzteres fehlt ihm sehr. Es geht: mit einem Baderollstuhl ins geliebte Meer geschoben und wieder herausgezogen werden. Mit einem mobilen Treppensteiger Freunde besuchen, deren Häuser nicht barrierefrei sind – "also praktisch alle". Und es geht: eine erfüllte Partnerschaft leben.

Gegen alle Widerstände

Aber es geht halt doch nicht: Bürgermeister sein. Er hat’s probiert, zwei Jahre lang. Dann teilte er Anfang 2022 seinen 25 000 ­Einwohnern mit, dass er sein Amt aufgibt. Zu lange Tage, zu viele Termine, zu viele Schmerzen an den vielen Bruchstellen seines Körpers. "Das war knallhart", erinnert sich eine Weggefährtin, die Bundestagsabgeordnete Heike Engelhardt, "aber wir alle dachten spontan: Reschpekt vor diesem Schritt!"

Reschpekt, das ist für die mit Lobes­bezeugungen sparsamen Schwaben schon viel positive Zuwendung. Respekt vor einem Mann, dem man vor Jahren noch nicht einmal zugetraut hätte, dass er Oberbürgermeister in der CDU-Hochburg wird, weil er – so sagt er es selber – "dreifache Abweichung" verkörpert: schwul, evangelisch, parteilos. Jetzt kommt das vierte Diversitätsmerkmal dazu, behindert. Und drum ist die Geschichte von Markus Ewald auch eine Geschichte über dieses Land, in dem inzwischen ganz schön viel geht.

Rückblick ins Jahr 2004. "Die Zeit ist noch nicht reif für einen schwulen Bürgermeis­ter", sagte ihm der Leiter eines Bürgermeist­er-Kurses. "Das können Sie nicht machen. ­Ohne Parteibuch und evangelisch, da braucht es ­wenigstens eine Frau und zwei Kinder." Ewald fand: "Jetzt erst recht."

Der studierte Betriebswirt und Berater für Change Management hatte da gerade Spaß gefunden an der Idee, in die Politik zu gehen. Auf einem ­Klassentreffen in seiner Heimatstadt Bad Urach hatte eine Freundin aus dem Leistungskurs Französisch die Idee: "Mach doch du den Bürgermeister!" Klang erst nach einer Schnaps­idee, doch in den Tagen darauf bestärkten ihn die alten Freunde: Hier liegt Mehltau über der Stadt. Wir brauchen frischen Wind!

Immer aktiv, immer ­unter Leuten

Er hat dann gewonnen, und ja, die Zeit war noch nicht ganz reif. "Sowas" werde sie nicht wählen, sagte eine Bad Uracherin am Wahlstand. Und bei offiziellen Anlässen ­schafften es die Redner, alle Personen in der ersten ­Reihe zu begrüßen. IHK-Chef, ­Stadtpfarrer, den Landrat mit Gattin. "Nur über mich ­hüpften sie quasi hinweg", erinnert sich Ralf Müller, Ewalds Ehemann. "Als ob ich da gar nicht gesessen hätte."

Seit 27 Jahren sind Müller und Ewald ein Paar, kennengelernt haben sie sich in einem Chor in Trier. Ewald, immer aktiv, immer ­unter Leuten, immer in der Welt. Müller, Sozial­pädagoge, eher der stille Typ, er steht nicht gern in der Öffentlichkeit. Richtig begeistert war er nicht, dass sein Markus bald schon die nächste Stufe erklimmen wollte, Oberbürgermeister in Weingarten werden – doppelt so groß wie Bad Urach. "Aber ich wusste, wenn er das will, muss er das ­machen." 2008 gewann Ewald in Weingarten im ersten Wahlgang mit 54,9 Prozent der Stimmen gegen die Bewerber von CDU und SPD, acht Jahre später holte er sogar 73,5 Prozent.

Markus Ewald: "Es gibt nichts Sinnstiftenderes, als eine Stadt zu entwickeln"

Ob die Zeit inzwischen reifer war? Oder Weingarten mit seinen 7500 Studierenden weltoffener als das kleinere Bad Urach? ­Jedenfalls lief es diesmal deutlich besser. "Der Feuerwehrchef hat Ralf persönlich ­eingeladen zum Faschingsball", sagt Ewald, "und ein Stadtrat rief bei mir an und fragte: Wie genau soll ich Ihren Mann ansprechen in meiner Rede?" Das fand das Männerpaar gut.

Überhaupt wäre in dieser Geschichte jetzt alles gut. Das Bürgermeisteramt "ein Traumjob". Die konservative Kleinstadt im Aufbruch. "Ein Wahnsinnsschritt für Weingarten" sei das gewesen, erinnert sich die engagierte Bürgerin Iris ­Herzogenrath, die auf dem Münsterplatz ein Kloster-"Lädele" betreibt, "da wurden viele Vorurteile gegen Homosexuelle abgebaut. Auch weil die beiden kein großes Ding draus machen, die sind einfach nett und liebenswert."

"Es ist alles kaputt außer der ­linken Hand"

Wenn schon ein schwuler Mann Bürgermeister werden kann, so scheint es in der Bevölkerung anzukommen, dann geht noch viel mehr in der Stadt. 2013 kamen 39 afrikanische Männer ins leerstehende Kloster, später dann Hunderte von Flüchtlingen aus Syrien. "Wir hatten zeitweise eine Eins-zu-eins-Betreuung", schwärmt Ewald, es sei richtig Schwung gekommen in die Stadt. Auch als es an die Planung eines neuen Quartiers ging, der Martinshöfe, beteiligten sich mehrere Hundert Menschen in Bürgerräten. Es muss eine tolle Zeit gewesen sein, "es gibt ja nichts Sinnstiftenderes, als eine Stadt zu entwickeln", beschreibt Ewald seinen Beruf.

Dann kommt der 14. Dezember 2018. Die beiden Männer wollen abends nach Stuttgart zu Freunden fahren, ein Freitagabend, beide sind k. o. von der Woche. "Fahr du", bittet Ewald seinen Mann, man könne ja nach der halben Strecke abwechseln, spricht’s, lässt auf dem Beifahrersitz die Rückenlehne nach unten und schläft ein. Er wacht erst zwei ­Wochen später im Bundeswehrkrankenhaus in Ulm wieder auf, als die Ärzte ihn aus dem Koma holen. Das Auto war außer Kontrolle geraten und auf einen Baum geprallt, Ewald unter dem Gurt durchgerutscht. Es ist, sagt Ewald lapidar, "alles kaputt außer der ­linken Hand". Querschnittslähmung ab dem ­Bauchnabel, zwei Aortenabrisse, zahlreiche Brüche, ­kaputte Zähne, mehrere Schlaganfälle.

Wenn man jetzt im Sommer 2022 auf ­seiner Terrasse sitzt, unter zwei Kronleuchtern und mit Blick auf einen gemütlichen Kamin, denkt man zwischendurch, es sei eigentlich alles ganz gut. Man sitzt auf der Bank, also auf ­Augenhöhe mit dem Rollstuhlfahrer, Ewald ist mit Poloshirt und Chino so schick gekleidet, dass man zweifellos sofort zu ­einer Grundsteinlegung mit ihm ­aufbrechen könnte.

Ehemann Ralf Müller weiß: Schuld ist man nie allein

Aber dann erstarrt er plötzlich, braucht eine Pause. Ein überwältigender Schmerz, der von innen nach den Eingeweiden greift. Man weiß nie, wann er kommt, "es beamt mich dann ganz weg". Dazu kommen Sprachstörungen, da kommt zum Beispiel das Wort ­"Klassentreffen" einfach nicht über die Lippen, eine Folge der Schlaganfälle. "Und das kam manchmal mitten in der Gemeinderatssitzung", sagt er, "das geht gar nicht."

Das geht gar nicht, ein Bürgermeister im Rollstuhl? Aber es gibt doch auch Wolfgang Schäuble im Rollstuhl, der schafft’s doch auch? Er hat sicher viele Personen, die ihn unterstützen, und ich würde ihn gerne fragen, wie er ­dieses große Pensum bewältigt, sagt Ewald, "und außerdem ist jeder Querschnitt anders".

Er wollte Weingarten noch barrierefreier gestalten

Die Leute wollten immer diese Geschichten, dass man alles im Rollstuhl ganz toll schaffen kann. Aber es ist nicht immer ganz toll. Auf einer Reha-Messe beobachtete er unlängst die Rollstuhl-Athletin Kristina Vogel. "Der sagen die Leute ständig: Ich bewundere Sie." Aber in ihrem Gesicht meinte er zu sehen: Es tut weh. Ich bin müde. Ich schaffe gar nicht alles.

Er sagt sich jetzt immer: Du hast nicht versagt. Denn er hat es ja probiert, das Bürgermeis­tersein. Nach einem Jahr Reha stieg er wieder ein und dank Corona konnte er vieles von zu Hause im Rollstuhl machen. Zwei Jahre hat er es durchgezogen, und in diesen zwei Jahren hat sich Weingarten noch mal verändert, in Richtung Barrierefreiheit. "Wir hatten mehrere Preise für unsere Barrierefreiheit in der Innenstadt bekommen, aber wenn man selbst im Rollstuhl sitzt und jede Stufe spürt, sieht das anders aus."

Das gilt leider auch für das Rathaus, das kann man wegen der denkmalgeschützten Gemäuer auch nicht umbauen, also bezog er sein Amtszimmer im Nebenbau. Barrierefreie Zugänge ließ er bauen im Freibad und Hallenbad, viele Vereine haben über barrierefreie Zugänge nachgedacht und die Basilikatreppe bekam auch einen neuen Zugang, "das bedauere ich am meisten, dass ich diese Chance jetzt nicht mehr habe, notwendige Dinge direkt umzusetzen. Jetzt muss ich bitten."

Aber es ging dann einfach nicht mehr. Corona vorbei, 12-Stunden-Tage im Amtszimmer, auch am Wochenende viele Termine und eine Einweihung nach der anderen. Und immer diese Schmerzen. "Ich pumpe Sie alle drei Monate mit Schmerzmitteln voll", sagte seine Ärztin ihm auf den Kopf zu, "aber es wird immer schlimmer werden, wenn Sie so weitermachen. Ihr Körper nimmt Schaden."

Also die Entscheidung: im Januar Rücktritt. Bei der Verabschiedung spielt die Stadtkapelle Weingarten, es fließen Tränen. In der ers­ten Reihe selbstverständlich Ralf Müller, der Ehemann. Der ist erleichtert. Längst machte er sich Sorgen um Markus’ Gesundheit, "und auch ich bekam ja immer abends einen todmüden Mann zurück".

Geholfen hat den beiden, dass sie schon mehrere schwere Schicksalsschläge gemeinsam durchgemacht haben. 2014 verunglückten Ewalds Eltern tödlich, auf derselben Bundesstraße 30. Im September 2021 verschluckte ein Vulkan auf La Palma die ­barrierefreie Ferienhaussiedlung, in die sie sich gerade eingekauft hatten.

"Was er mir früher gegeben hat, gibt er mir immer noch. Er gibt Intimität"

Helfen mag auch, dass das Paar immer wieder über Veränderungen im Leben verhandelt hat – Ralf Müller gab schließlich fünf Mal Ort und Beruf auf für die Karriere seines Mannes. Die Frage "Musst du immer so präsent sein?", die sei ja gar nicht neu, die wurde in ihrer Partnerschaft von Anfang an gestellt.

Das fällt auf: Beide sprechen viel über Dinge, die trotz des schweren Unfalls gleich geblieben sind. Über Liebe, die bestehen bleibt. "Was er mir früher gegeben hat, gibt er mir immer noch", sagt Ralf Müller, "er gibt Intimität. Er liest die Zeitung und erzählt mir danach alles, er ruft Freunde an, er lädt die Leute ein."

Klar: Markus lädt ein, alles andere muss Ralf machen. Einkaufen, kochen, Tisch ­decken. Er muss seinen Mann am Wochen­ende, wenn der Pflegeassistent nicht da ist, waschen, nach Druckstellen absuchen, an- und ausziehen und ins Bett legen. Einmal im Bett, kann Markus auch nicht mehr aufstehen. "So gehe ich halt als Letzter ins Bett und stehe als Erster auf, obwohl ich das gar nicht mag." Man merkt, das sind alles Dinge, mit denen man in einer guten Beziehung fertig werden kann. Und sie sehen es realistisch: "Wir sind noch längst nicht angekommen im neuen Leben."

"Das Leben ist jetzt anders, aber auch anders schön"

Manchmal überlegen sie, was wäre, wenn ein ­Dritter den Unfall verursacht ­hätte. Wären sie dann noch zusammen? Muss Ralf das jetzt machen, weil er schuld ist am Unfall? Der sagt knallhart: "Ich habe alles versaut." Mit der Schuldfrage ist er noch nicht ganz fertig, im Krankenhaus, wo er mit – vergleichsweise leichten – Unfallverletzungen lag, half ihm eine Psychologin. Zum Beispiel mit der Überlegung: Schuld ist man nie alleine. Es hätte ja auch Markus am Steuer sitzen können an diesem 14. Dezember, aber der hatte sich durchgesetzt, dass er zuerst auf dem Beifahrersitz schlafen darf. "Er muss mit seinem Teil leben", sagt Markus, "und ich mit meinem, doch gemeinsam schaffen wir es."

Ankommen im neuen Leben hieße auch, dass Ralf mal wieder was alleine machen kann. Einen Surfkurs oder einen Segelkurs. Tennis spielen. "Krieg ich noch nicht fertig", sagt Ralf. Aber fertig ist ja eh nichts, auch Markus Ewald ist sicher, dass er bald wieder eine Aufgabe findet. Vielleicht Bürgermeister-­Kollegen beraten, wie sie ihre Städte barrierefrei machen können. Vielleicht auch was ganz anderes. Das mit dem Unfall, das will er jetzt hinter sich lassen. "Das Leben ist jetzt anders", sagt er, "aber auch anders schön."

Lesen Sie hier vom Schicksal einer Frau, die ihre Familie bei einem Unfall verlor.

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