Meine Geschichte mit Michail Gorbatschow begann Mitte der Achtziger. Ich hatte das Buch "Frieden ist möglich – Die Politik der Bergpredigt" publiziert. Danach traf ich einen russischen General, der Sicherheitsberater von Gorbatschow im Kreml war. Er sagte mir: "Mein Chef ließ sich ihr Buch übersetzen. Wir werden in der Sowjetunion jetzt eine Politik im Geiste der Bergpredigt machen und einfach mit dem Wettrüsten aufhören, weil es einfach keinen Sinn mehr macht und gefährlich ist."
Dr. Franz Alt
Das war tatsächlich mein Vorschlag in meinem Bergpredigtbuch: Einer muss anfangen, aufzuhören. Feindesliebe heißt nicht: Lass dir alles bieten, sondern ganz realistisch: Mach den ersten Schritt auf den anderen zu. Tatsächlich wurde "Gorbi" der größte Abrüster aller Zeiten, er hat damit den Weg zur friedlichen deutschen Einheit geebnet, den Kalten Krieg beendet und die Welt positiv verändert. 80 Prozent aller Atomwaffen wurden verschrottet. Die Hauptgefahr eines Atomkriegs war beseitigt. "Wie war das möglich?", wollte ich später von ihm wissen. "Nur durch Vertrauen, das ich zum damaligen US-Präsidenten Reagan aufbauen konnte", war seine Antwort. Nun ist Michail Gorbatschow gestorben.
Er war der Sohn eines russischen Vaters und einer ukrainischen Mutter. Auch seine Frau Raissa hatte ukrainische Wurzeln. Er nannte sie oft liebevoll "meine Ukrainerin". Solche Familienbande zwischen Russen und Ukrainern sind zahlreich in beiden Nachbarländen. Auch das macht den aktuellen Krieg unbegreiflich und absolut sinnlos wie jeden Krieg.
Gorbi konnte sich in jeden Menschen einfühlen
2017 veröffentlichte ich zusammen mit Michail Gorbatschow das Buch "Kommt endlich zur Vernunft – Nie wieder Krieg!". Damals haben wir beide uns nicht vorstellen können, wie dramatisch aktuell dieser Buchtitel fünf Jahre später sein wird. Nie wieder Krieg?
Gorbatschow damals: "Wir sind eine Menschheit auf einer Erde unter einer Sonne." Wirklicher Frieden könne "nur erreicht werden unter der Bedingung einer demilitarisierten Politik und demilitarisierter internationaler Beziehungen. Politiker, die meinen, Probleme und Streitigkeiten könnten durch Anwendung militärischer Gewalt gelöst werden – sei es auch als letztes Mittel – sollten von der Gesellschaft abgelehnt werden, sie sollten die politische Bühne räumen." Kein Wunder, dass Gorbatschow und Putin nie Freunde werden konnten. Doch mir ist auch unvergessen, was Gorbatschow über Wladimir Putin sagte: "Auch Putin hat einen guten Kern." Gorbi konnte sich in jeden Menschen einfühlen, was ihm heute oft als "romantisch" vorgeworfen wird. Während des Kalten Krieges musste er sich in Ronald Reagan einfühlen, der weiß Gott kein Pazifist war. Doch sie schafften zusammen die größte militärische Abrüstung aller Zeiten. Und das Ende des Kalten Krieges. Das hieß 30 Jahre Frieden – ein Geschenk für die ganze Welt, vor allem für Deutschland.
Erst vor wenigen Wochen schickte mir Gorbatschow einen Artikel für die Zeitung "Russia in Global Affairs", in dem er schreibt: "Keine Herausforderung oder Bedrohung, der die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenübersteht, kann militärisch gelöst werden. Kein großes Problem kann von einem Land oder einer Gruppe von Ländern im Alleingang gelöst werden."
"Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg der Menschheit"
Als die dringendsten Probleme unserer Zeit nennt er in diesem Artikel, einer Art Vermächtnis: die Abschaffung der Atomwaffen und die Überwindung der Massenarmut in den Entwicklungsländern sowie die Rettung des Weltklimas.
Als ich Gorbatschow 2018 in Moskau einen Friedenspreis überreichen und auf ihn die Laudatio halten durfte, fragte ich ihn, was wäre ein Atomkrieg? Seine Antwort: "Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg der Menschheit, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten." Diese Mahnung ist sein ganz aktuelles Vermächtnis.
Als letzter sowjetischer Staatschef war Michail Gorbatschow von 1985 bis 1991 auch Generalsekretär der Kommunistischen Partei. Niemand war mehr prädestiniert, für eine atomwaffenfreie und friedliche Welt zu werben als der Friedensnobelpreisträger aus Moskau.
"Hier steht meine Kraft"
Ich habe ihn während eines Fernsehinterviews für die ARD 1996 gefragt, woher er die Kraft für seine visionäre Politik nehme. Er deutete auf seine Frau Raissa, die hinter der Kamera stand, und sagte: "Hier steht meine Kraft." Sie lachte und winkte zurück. In 55 Jahren politischem Journalismus habe ich auf der ganzen Welt keinen anderen Politiker kennengelernt, der so offen und ehrlich zugab, dass er seine wesentlichen politischen Erkenntnisse zwei Frauen verdanke: seiner Raissa und seiner Mutter. Dieser Politiker bewies, dass ein Mensch mit Mut und Visionen die Welt zum Besseren verändern kann. Dabei waren Frauen seine entscheidende Kraftquelle.
Die Gorbatschows waren für mich das größte politische Liebespaar unserer Zeit. Keinem Paar verdankt die Welt mehr.
Mit seiner Politik der Perestroika (Transformation) und Glasnost (Offenheit) hat er nicht nur den Russen, sondern vielen Ost- und mitteleuropäischen Völkern Freiheit gebracht, auch der Ukraine. Daraus ergibt sich für heute: Putinland ist nicht Russland! Gerade wir Deutsche sollten das nicht vergessen. Das russische, das polnische, aber auch das ukrainische Volk haben am meisten unter der Nazidiktatur gelitten. Doch sie alle haben uns vergeben – das vielleicht weltgrößte politische Wunder nach 1945. Der völkerrechtswidrige Krieg gegen die Ukraine ist kein Krieg des russischen Volkes. Gorbatschow in unserem gemeinsamen Buch: "Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen und friedliche Konfliktlösung müssen im Regelwerk des Völkerrechts zu Kernpunkten werden."
"Sieger ist nicht, wer Schlachten in einem Krieg gewinnt, sondern wer Frieden stiftet"
Ich wage mir kaum vorzustellen, wie es meinem Freund Michail Gorbatschow in den letzten Monaten seines Lebens in einem Moskauer Krankenhaus ergangen ist. Er war überzeugt: Sieger ist nicht, wer Schlachten in einem Krieg gewinnt, sondern wer Frieden stiftet. Sein Vermächtnis. Er selbst hat 1991 durch seinen freiwilligen Rücktritt in Russland wahrscheinlich einen Bürgerkrieg verhindert. Er sagte dazu: "Mein Rücktritt war meine wichtigste politische Entscheidung."
Er war der außergewöhnlichste Friedenstifter unserer Zeit. Bei unserem letzten Treffen sagte mir der ehemalige Kommunistenchef und spätere Sozialdemokrat, er sei überzeugt, dass die Bergpredigt Jesu das effizienteste Überlebensprogramm der Menschheit sei. Das habe ich so von einem christlichen Politiker noch nie gehört. Wir alle können viel lernen von Michail Gorbatschow.