Kirchgang - Christianskirche Hamburg
Kirchgang - Christianskirche Hamburg
hh oldman, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
Steine fallen, Winde wehn
Miteinander vertraut wirken die Menschen im Gottesdienst in Hamburg-Ottensein - und singen können sie.
Portrait Anne Buhrfeind, chrismon stellvertretende ChefredakteurinLena Uphoff
10.08.2022

Christianskirche Hamburg-­Ottensen, Sonntag, 10.30 Uhr: Große Brunnenstraße, Holländische Reihe – schon eine halbe Stunde früher läuten die Glocken, jetzt schon? Beginnt der Gottesdienst nicht erst um halb elf? Eine alte Dame hetzt ihren Rollator Richtung Tür. Drinnen verteilen sich die Kirchgängerinnen locker im Raum. Andere kennen sich aus und trödeln langsam rein, eine bunte Mischung von Menschen, die miteinander vertraut wirken, nicht nur Bewohnerinnen des benachbarten Diakonie-Heims.

Sie können auch singen, hier in Hamburg-Ottensen, in diesem Gottesdienst mit Titel: "The Answer is Blowing in the Wind". Los geht’s im Stehen: "Geh aus, mein Herz". Der fremden Nachbarin und mir geht schon mal das Herz auf, wir strahlen uns an.

Hamburg genießt den ersten Ferientag. Der Pas­tor im weißen Talar ist ein Poet, Frank Howaldt spricht vom Sommer, der die Segel gesetzt hat. Von der Unterbrechung, die Verwandlung ermöglicht, ­ von Gottesgeschenken wie Wildwuchs und Schneckentempo. Nach dem Tagesgebet steht auf dem Ablaufzettel: "Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr, suche den Frieden". Die Gemeinde weiß, was sie zu tun hat: singen. Und zwar im Kanon. Wow! Später, bei "Dona nobis pacem", klappt das genauso gut.

In der Predigt geht es wieder um eine Unterbrechung, diesmal: eine stille Intervention. Frank ­Howaldt schildert einen Sonntag­morgen an Gleis zehn. Zu viele Menschen, 9-Euro-Ticket, Ferienbeginn, Verspätungen, Fahrradwetter – und der DB-Mann will keine Räder mitnehmen. Wut auf dem Bahnhof! Eine behinderte ­alte Dame rettet die Situation, ­indem sie den bedrängten Schaffner um Hilfe bittet.

In der Geschichte mit der Ehebrecherin möchte Jesus eigentlich schweigen, so ­Howaldt, er wende sich nicht Provokateuren zu, sondern schreibe in den Sand. "Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein." Er spreche eher Richtung Sand und richte sich erst auf, als die Steine ungeworfen zu Boden fallen und der Wind sein Geschriebenes verweht. "The Answer is Blowing in the Wind." Jesus ist ein Risiko eingegangen, er hat gewonnen.

Die Predigt dauert vielleicht zwölf Minuten, aber niemand hat auf die Uhr geguckt. Das tun wir erst beim Rausgehen, nach Fürbitte, Vaterunser, "Vertraut den neuen Wegen" und Segen. Ein belebender Gottesdienst. 36 Minuten. "Das machen wir nicht immer so", sagt der Pastor hinterher. Das ist ein Sommer- oder Corona-­Format. Egal: ein gutes Format.

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