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Nach Jahrhunderten der Kriege in Europa hat in der neuen Einheit der Europäischen Union (EU) noch nie ein Mitglied ein anderes militärisch angegriffen. Zurecht hat die EU vor zehn Jahren den Friedensnobelpreis erhalten. Doch bei diesem 8.Mai 2022 wird über Krieg und Frieden gestritten – auch und gerade in Deutschland.
Intellektuelle um den Grünen-Politiker und Publizisten Ralf Fücks fordern die Bundesregierung in einem Offenen Brief auf, kontinuierlich Waffen an die Ukraine zu liefern. Zuvor hatte eine Gruppe um Alice Schwarzer genau davor gewarnt. Die Gruppe um Frau Schwarzer warnt den Bundeskanzler vor den Gefahren deutscher Waffenlieferungen, weil dies die Gefahr eines dritten Weltkriegs, ja eines Atomkriegs, erhöhen könnte. Die Gruppe um Ralf Fücks fürchtet dasselbe, wenn Deutschland keine Waffen liefert.
Eine Kultur des Zweifelns
Ich gestehe, das ich in diesem vom russischen Präsidenten Putin willkürlich begonnen Aggressionskrieg gegen die Ukraine, nicht weiß, welche Seite letztlich recht hat. Wir können nur eines wissen: Beide Seiten können schuldig werden. Jede Entscheidung hat ihre dunkle Seite. Jede Entscheidung fordert Menschenleben. Jede Entscheidung macht schuldig.
Die Befürworter der Waffenlieferungen können nicht ausschließen, dass diese zur weiteren Eskalation beitragen. Und die Gegner von Waffenlieferungen können aber auch nicht ausschließen, dass sie sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Die beiden Positionen der Briefschreiber spiegeln auch die Seelenlage der deutschen Bevölkerung wieder. Wir sind in dieser Frage gespalten. Wir sollten gerade jetzt auf einander hören. Auch hier gilt: Dialog ist hilfreicher als gegenseitige Beschimpfungen. Es gibt auch eine Kultur des Zweifelns.
Irgendwo zwischen den Positionen der beiden „Offenen Briefe“ unterstützt der Philosoph Jürgen Habermas den Bundeskanzler in seiner oft zögerlich scheinenden Haltung, was die Waffenlieferungen betrifft. Auch ich finde einen bei Waffenlieferungen zögernden Bundeskanzler sympathischer als einen Scharfmacher.
Auch Papst Franziskus hat in diesen Tagen Zweifel an Waffenlieferungen von außen geäußert, aber zugleich das Recht auf Selbstverteidigung jedes Landes unterstrichen. Völkerrechtlich ist dieses Recht unbestritten. Jeder wirkliche Pazifist und jede wirkliche Pazifistin muss sich allerdings fragen, wie sich in diesem Vernichtungs-Krieg Putins die Ukraine ohne Waffen verteidigen soll. Vielleicht brauchen wir jetzt einen kurzen Umweg „Frieden schaffen mit Waffen“, um das langfristige Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu erreichen.
Fakt ist: Der heutige Herrscher in Moskau heißt Putin und nicht mehr Gorbatschow. Unser Problem ist: Es gibt heute weit und breit keinen Gorbatschow und wenn es ihn gäbe, säße er unter Putin im Gefängnis. Vielleicht erkenn wir jetzt neu, was wir Gorbatschow verdanken.
Eines sollten wir uns aber immer wieder klar machen: auf welcher Seite der Briefschreiber wir auch stehen: Betroffen sind immer zuerst die Menschen in der Ukraine. Ihre jungen Männer werden getötet, ihre Frauen werden vergewaltigt, ihre Kinder und ihre Alten werden zur Flucht gezwungen. Da verbietet sich deutsche Besserwisserei.
Deutscher Pazifismus kann also nicht heißen, dass wir vom sicheren hiesigen Boden aus, den Ukrainern empfehlen könnten: Bitte ergebt euch! Das wäre ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Es wäre ein „Pazifismus“, der dem Aggressor noch die Tür aufhält.
Das Ur-Ethos aller Religionen und Weisheitslehren heißt: „Du sollst nicht töten“. Das meint aber auch „Du sollst nicht töten lassen,“ falls du das verhindern kannst. Deshalb wäre es beim Massenmord in Ruanda 1994 notwendig und moralisch richtig gewesen, wenn die anwesenden UNO-Soldaten versucht hätten, den Massenmord zu verhindern – auch mit Waffen.
Als Pazifist im Geiste Jesu und seiner Bergpredigt hoffe ich auf die Kraft, mich eher töten zu lassen als selbst zu töten. Aber ich habe nicht das Recht, meine Frau, meine Kinder und meine Mitbürger abschlachten zu lassen, falls ich die Möglichkeit sehe, dies zu verhindern – auch mit Waffen. Wehrlos abschlachten lassen, ist kein Pazifismus der Bergpredigt, sondern ein „Pazifismus“ im Sinne des Aggressors. Jesus war kein politischer Depp, sondern ein Realist. Sein Vorschlag heißt: pacem facere – Frieden schaffen – aber wie? Im Zweifel muss darüber gestritten werden so wie jetzt in Deutschland. Was dabei oft vergessen wird: Schon die deutsche Ur-Pazifistin Bertha von Suttner hielt Verteidigungskriege für legitim. Und der bekannteste deutsche Pazifist Albert Einstein differenzierte zwischen „vernünftigem Pazifismus“ und „verantwortungslosem Pazifismus“.
Der jesuanische Pazifismus heißt nicht: Lass dir alles bieten. Er heißt eher: Sei klüger als dein Feind, geh als erster auf deinen Feind zu und vergiss nie: Er ist ein Mensch wie du – mit Ängsten und Hoffnungen.
Der Dalai Lama lebt Pazifismus seit Jahrzehnten vor
Der Dalai Lama mailte mir in diesen Tagen folgenden Text: „Der Konflikt in der Ukraine hat mich zutiefst erschüttert. Unsere Welt ist so stark voneinander abhängig geworden, dass ein gewaltsamer Konflikt zwischen zwei Ländern unweigerlich Auswirkungen auf den Rest der Welt hat. Krieg ist überholt („war is over“) – Gewaltlosigkeit ist der einzige Weg. Wir müssen ein Gefühl für die Verbundenheit der Menschheit entwickeln, indem wir andere Menschen als Brüder und Schwestern betrachten. Auf diese Weise werden wir eine friedlichere Welt aufbauen.
Probleme und Streitfragen lassen sich am besten im Dialog lösen. Echter Frieden entsteht durch gegenseitiges Verständnis und Respekt für das Wohlergehen des anderen.
Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Krieges und des Blutvergießens. Das 21. Jahrhundert muss ein Jahrhundert des Dialogs sein. Ich bete, dass in der Ukraine schnell wieder Frieden einkehrt.“ Der Dalai Lama
Gerade im Atomzeitalter und gerade jetzt in der Zeit des Ukraine-Kriegs brauchen wir eine starke Friedensbewegung. Und starke Pazifisten.
Im Augenblick wirkt Pazifismus vielleicht eher wie ein ferner Traum. Aber immer noch wie ein Traum. Wichtige Ziele waren schon immer wie ferne Träume. Das war so bei der Abschaffung der Sklaverei, bei der Überwindung der Kinderarbeit und bei der Einführung des Frauenwahlrechts. Oder beim Traum von der friedlichen deutschen Wiedervereinigung. Noch im Sommer 1989 glaubte auch ich nicht an die deutsche Wiedervereinigung. Aber schon im Herbst desselben Jahres wurde der Traum wahr. Das zeigt:
Die Träume und die Visionen von heute sind oft die Realitäten von morgen. Unser wichtigster Treibstoff bleibt die Hoffnung und die Lust auf eine bessere Zukunft. Auch der Visionär Gorbatschow sagt bis heute: „Sieger ist nicht, wer Schlachten gewinnt. Sieger ist, wer Frieden stiftet.“