Wohnlage Spiegelfabrik Fürth Luftbild
Andrew Alberts
"Langweilig kann jeder"
Multikulti in der Praxis ist anders als in der Theorie. Das Wohnprojekt „Spiegelfabrik“ in Fürth ist in jeder Hinsicht außergewöhnlich und lohnt den Besuch.
Tim Wegner
28.04.2022

Das Schöne an diesem Blog ist: Ich habe immer wieder Anlässe, um in allen möglichen Orten nach neuen Wohnformen zu suchen und die hier vorzustellen. So auch letzte Woche in Fürth.

Dort war ich zu einer Recherche (Merke: Fürth ist Hauptstadt des Fairen Handels 2021dazu an anderer Stelle im Laufe des Jahres mehr). 

Fürth ist aber auch Heimat der "Spiegelfabrik", auf die mich die Architektin Verena von Beckerath aufmerksam gemacht hat. Sie und ihr Partner Tim Heide haben das Wohnprojekt für eine Baugruppe in Fürth realisiert und da ich schon in Berlin ein vorbildhaftes Wohnprojekt des Büros besichtigt habe (das IBEB am ehemaligen Blumengroßmarkt), wollte ich die Gelegenheit nutzen.

Der Bau verbindet zwei Straßenebenen

Schon aus der Ferne fällt das Haus auf. Inmitten des Gründerzeitviertels wirkt der Neubau ein bisschen wie ein Alien. Viel Beton, viel Glas, viel Fläche und Freiräume, eine offene Garage und am Rand die alte Schmiede als Gemeinschaftswerkstatt aus rotem Ziegelstein. Die beiden großen Wohnblöcke laufen über zwei "Etagen" und verbinden mit der Geländestufe auf dem Grundstück die tiefer gelegene Straße am Bürgerpark von Fürth und dem Flüsschen Pegnitz mit einer höher gelegenen Wohnstraße. Mittenhindurch führt eine riesige Freitreppe, die wie ein Freilufttheater unten vor den Fenstern des Waschsalons endet. Tatsächlich höre ich später, dass hier schon im ersten Jahr nach Einzug der über 100 Menschen, die hier wohnen, kleine Aufführungen stattgefunden haben.

Viele Wohnungen sind durch Galerien verbunden, auf denen viel Leben stattfindet. Hier die südöstlichenFassade, im Hintergrund die alte Schmiede

Da ich niemanden antraf, um um Erlaubnis zu fragen, bin ich einfach so über das Gelände gestromert, hab mir die Balkons, Galerien und Freiflächen zwischen dem großen, grauen Wohn-Neubau und der alten Schmiede angeschaut. Auffallend ist der Saal im oberen Teil des Baus. Bodentiefe Fenster, die sich, wie ich später höre, barrierefrei öffnen lassen und so den Menschen dort einen riesigen überdachten Raum für Parties und Treffen ermöglichen. Ich schaute mal oben, mal unten auf die Galeriegänge und Balkone. Oben auf dem Dach, das wusste ich von einem Foto, gibt es eine Dachterrasse. Sollte ich einfach hochlaufen? Nee, das fand ich dann, bei aller Offenheit, die dieser Bau ausstrahlt, doch zu frech.

Boulderhalle oder Wohnprojekt?

„Selber schuld“, sagt dazu wenige Tage später Brigitte Neumann im Telefoninterview. Gerne hätte ich die Treppen hochlaufen können, sagt sie: „Die meisten Leute, die hier wohnen, sind entspannt, wenn Fremde über das Gelände laufen.“ Immer wieder kommen Menschen auch aus Fürth zum „Gucken“. Der Bau polarisiert: „Entweder findet man uns toll oder furchtbar“, weiß sie.

Die 60jährige Wissenschaftsjournalistin und Ernährungswissenschaftlerin hat jahrelang als Geschäftsführerin das Projekt geleitet. Die ganze Geschichte zu erzählen, würde zu weit führen, daher nur einige Stichworte.

Der Besitzer der hier ansässigen Glaserei, in der auch Spiegel gefertigt wurden, daher der Name, wusste irgendwann nicht mehr, was er mit der vielen Lagerfläche für seinen Geschäftsbetrieb und dem Gelände anfangen sollte. Bei einem Bierchen mit Freunden kam erst die Idee einer Boulderhalle auf, dann ein Wohnprojekt.

Miet- und Eigentumswohnungen miteinander gemischt

2015 gründete sich eine erste Baugruppe, ein Jahr später kam Brigitte Neumann dazu. Schnell wurde allen klar: Einfach so Eigentumswohnungen bauen auf dem außergewöhnlichen Gelände, nein, das wollten sie nicht. Sie wollten eine gemischte Gemeinschaft, unterschiedliche Menschen aus völlig unterschiedlichen Schichten, Herkunftsländern, Berufen. Wichtig war auch die Mischung der Lage der Wohnungen: Nicht der eine Wohnblock mit Eigentum, der andere mit Mietwohnungen, sondern alles durcheinander.

Da keine bestehende Baugenossenschaft in Fürth sich auf so eine Idee einlassen wollte, gründete die Gruppe eine Genossenschaft, ein „Höllenunterfangen“, wie es mir Brigitte in unserem langen Telefonat erklärte. Baugenossenschaften zu gründen ist in Deutschland mit einer unfassbar hohen Bürokratie verbunden. Im Prinzip ist das auch richtig so, denn schließlich verwaltet die Genossenschaft Geld von Menschen, die es oft nicht so dicke haben. In der Praxis jedoch killt die viele Bürokratie häufig viele gute Ideen.

Maximal wenig tragende Wände

Die „Spiegelfabrik GbR“ kaufte das Gelände und hatte schon mal den Grund und Boden, ein unschätzbarer Startvorteil. Mit dem Architekturbüro Heide & von Beckerath holten sie sich, so Brigitte Neumann, ein erfahrenes und kreatives Team an Bord. Der Bau beruht auf einer Rahmenkonstruktion mit maximal wenig tragenden Wänden. Variable und modular variierbare Wohnungen sind das Ergebnis, weiß Brigitte Neumann und findet toll: „Die Architekten waren einerseits sehr streng und haben wenig Ausnahmen erlaubt, andererseits sieht jede Wohnung total anders als, weil die Grundrisse so flexibel sind.“

Unten am Ende der Freitreppe wird der Platz vor dem Waschsalon als Bühne genutzt

Auch die Finanzierung war neu und besonders. Es gab ein filigran ausgearbeitetes Quer-Finanzierungsabkommen von den Eigentümern zu den Mietwohnungen, das jedoch im ersten Anlauf von angefragten Banken nicht akzeptiert wurde. Am Ende war nur die örtliche Sparda-Bank bereit, das Risiko einzugehen und einen Kredit zu geben. Die Stadt Fürth war dabei und kaufte Wohnungen. In einer von ihnen ist jetzt ein Stadtteilbüro, in einer anderen lebt eine geflüchtete Frau aus Eritrea mit ihren Kindern, in einer dritten ein Schriftsteller im Exil. Trotz aller Bemühungen gab es Kostensteigerungen weiß Brigitte Neumann: „Wir mussten immer wieder die Erwartungen abspecken.“ 2021 war Einzug. 58 Wohnungen wurden gebaut, zwischen 30 und 100 qm groß.

Multikulti in der Praxis ist anders als in der Theorie

Brigitte und ihr Mann selbst leben heute nicht im Haus – sie beide brauchten nach dem Ende das Baus erst mal ein bisschen Abstand, doch sie ist weiter Geschäftsführerin und bei allem dabei. Und dieses „alles“ ist viel, denn ein Jahr nach Einzug, so Brigitte Neumann, beginne jetzt eine „Bewährungsprobe“: „Es ist das eine, wenn so viele verschiedene Menschen den theoretischen Wunsch haben, zusammenzuleben. Es ist was ganz anderes, wenn diese vollkommen unterschiedlichen Lebensmodelle und Erfahrungen direkt aufeinanderstoßen.“

Da ich mir das Haus und das Gelände kurz angesehen habe, kann ich mir ungefähr vorstellen, was Brigitte meint. Hier und da auf dem Gelände lag Spielzeug herum, einiges definitiv schon sehr lange, in der Garage standen Schrotträder neben Super-Luxus- Transportbikes, ein bisschen Gartenabfälle vor der Kellertür, ein kaputter Buggy im Nirgendwo. 

Jetzt sind Workshops geplant, zur Gruppenbildung und zum weiteren Zusammenwachsen. Müssen alle dabei sein?

Nein, auf keinen Fall, sagt Brigitte Neumann: „Wenn wir anfangen, eine Gruppendynamik zu erzwingen, dann geht es nach hinten los.“ Es kommen die, die Lust zu Integration und neuen Ideen haben, davon profitieren alle und in Summe auch die ganze Gruppe. Auch materiellen Voraussetzungen, sprich die reine Architektur des Hauses sei einfach „genial“  dafür: „Sie können sich hier überall treffen.“ Selbst auf den Treppenabsätzen stünden Sessel für eine kleinen Plausch. Das Haus sei "ein Bau ohne Tore": "Wenn Corona endlich vorbei ist, werden wir in unserem wunderbaren Spiegelsaal wieder viel feiern."

Ob alles gut geht? „Das werden wir sehen“ sagt Brigitte Neumann. Wer es nicht ausprobiert, werde es nie erfahren. „Langweilig kann jeder“, findet sie.

 

 

 

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Kolumne

Dorothea Heintze

Wohnen wollen wir alle. Bitte bezahlbar. Mit Familie, allein oder in größerer Gemeinschaft. Doch wo gibt es gute Beispiele, herausragende Architekturen, eine zukunftsorientierte Planung? Was muss sich baupolitisch ändern? Wohnlage-Autorin Dorothea Heintze lebt in einer Baugemeinschaft in Hamburg und weiß: Das eigene Wohnglück zu finden, ist gar nicht so einfach. Alle zwei Wochen.