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Es sieht aus wie moderne Kunst. Direkt importiert aus einer Ausstellung von „Arte Povera“ in Turin oder München. Kunst ohne Konventionen und traditionelle Formensprache, ohne Blick auf Markt und Konsumenten - in meiner Küche, von mir installiert aus alltäglichen, ganz leicht zu bekommenden, banalen, eben „armen“ Materialien. Eine revolutionäre Exposition des Sinnlichen. Ich bin begeistert von mir selbst.
Da betritt mein Mann die Küche und sagt: „Soll ich diese ganzen Papiertüten zum Müll bringen?“ Der kluge Mann, der immer wieder Joseph Beuys’ Satz zitiert: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Das tut er normalerweise, um meine Sinne für den erweiterten Kunstbegriff des deutschen Aktionskünstlers zu schärfen und mich zu eigenen Aktionen zu ermutigen. Und jetzt das. Etwas ernüchternd alles in allem.
Die Kunst, füreinander zu leben
„Nein“, antworte ich. „Lass bitte stehen.“ Mein Mann trollt sich. ‚Wer weiß, was sie wieder vor hat‘, wird er denken. Nichts natürlich. Ich hatte nur einen Moment Freude an diesem chaotischen Papierhaufen und habe tatsächlich an „Arte povera“ gedacht. Der Moment zählt, der Blick auf das Normale, das eine ganz eigene Schönheit entfalten kann. Für ihre Entdeckung braucht man keinen elitären Überbau.
Meine Tüten stammen aus der online-Bestellung bei einem Supermarkt. Ein Teil des Einkaufs wandert in meinen Kühlschrank, anderes wird von Frauen der katholischen Nachbargemeinde abgeholt und den Ukraineflüchtlingen in ihren Räumen gebracht. Meine eigene Arte Povera: Die Kunst, gemeinsam mit normalen, einfachen Dingen kreativ umzugehen, bestehende Verhältnisse zu verändern, alte Werte, neue Visionen. Über-Lebenskunst.
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