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Wo aber Gefahr ist, wächst die Geschwätzigkeit auch
Zu den noch wenig erforschten Aspekten der Corona-Pandemie gehört die schlappe Stumpfheit, in die Infektion und Quarantäne einen führen, wie ich gerade selbst erlebt habe. Ein gutes Mittel, um die matte Leere zu füllen, war für mich der Griff ins Bücherregal: Da standen all die geliebten Bücher herum, die ich mir schon lange nicht mehr angesehen habe – jetzt war Zeit dafür.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
31.03.2022

Eine Entdeckung machte ich, als ich das Taschenbuch „Wenn man einen weißen Anzug anhat“ von Max Goldt wiederlas. Es enthält tagebuchartige Einträge aus dem Herbst 2001. Man muss nur Daten, Orts- und Personennamen austauschen, schon erhält man erhellende Kommentare zur aktuellen Lage – so zur viel zu laut beschrieenen „Zeitenwende“. Ich übergebe das Wort also an den verehrten Autor. Am 11. September 2001 schrieb Max Goldt unter anderem dieses:

“Zwei Stunden glotzte ich auf den Bildschirm. Ich war unglaublich durstig, sah mich aber außerstande, in die Küche zu gehen, um mir etwas zu trinken zu holen... Eine erste Ernüchterung trat ein, als Angela Merkel im Studio erschien. Mein Gott, warum interviewen sie die denn? Angela Merkel sagte das, was Angela Merkel halt zu sagen pflegt, wenn Terroristen in Hochhäuser hineinfliegen, und dann kam auch noch Edmund Stoiber, und ich glaube, er war es, von dem ich zuerst den Satz hörte, nun sei nichts mehr wie zuvor. Nach Edmund Stoiber stellte ich den Fernseher aus... Ich stellte noch einmal das Radio an: ob da vielleicht was anderes zu erfahren sei als aus dem Fernsehen. Bei Info-Radio war man bereits bei der Befindlichkeit der Berliner Bevölkerung angelangt. Eine merkwürdige Stille liege über der Stadt... <Goldt verlässt die Wohnung, zieht durch die Straßen und stellt fest:> Von Stille keine Spur, schon gar nicht von einer merkwürdigen... Ich kaufte mir eine Flasche Wein und kehrte heim. Ins Wohnzimmer mochte ich nicht mehr gehen, denn da stand der Fernseher, und den erbarmungslosen schwarzen Kasten wollte ich nicht mehr sehen. Selbst wenn ich ihn nicht anstellte: Die bösen Sachen sind ja trotzdem in ihm drin.“

Am folgenden Tag, dem 12. September 2001, schreibt er:

„Die Zeitungen von heute erspare ich mir lieber. Man kann sie sich ja denken. Der Kenntnisstand des Fernsehens von gestern abend, garniert mit reichlich Kommentaren von Schriftstellern und Schauspielern, die sich nach irgendwelchen Ereignissen immer gleich einen Zettel mit Formulierungen schreiben und den neben das Telefon legen in der Hoffnung, sie werden von Medien angerufen.“

Nichts mehr wie zuvor? Oder Ewige Wiederkehr des Gleichen? Ich jedenfalls konnte in den vergangenen Tagen meinen müden Kopf gar nicht so heftig schütteln, wie mich manche medial vermittelte Torheiten eigentlich geschätzter Schriftstellerinnen und Schriftsteller irritiert haben. (Politische Äußerungen aus den Reihen der Schauspielkunst versuche ich gar nicht erst wahrzunehmen. Wozu gibt es Drehbücher?) Der Gerechtigkeit halber muss ich natürlich zugeben, dass die Einlassungen meiner kirchlichen Kolleginnen und Kollegen ebenfalls von gemischter Qualität waren. Es ist halt ein Elend besonderer Güte, wenn man meint, sich von Berufswegen über alles Mögliche, das gerade passiert, öffentlich dezidiert äußern zu müssen, auch wenn man keine Sachkenntnisse besitzt und erst einmal in erschütterter Stille nachdenken müsste, damit man sich langsam, langsam ein Urteil bilden kann.

Dass es aber noch viel schlimmer geht, erlebte ich, als ich willenlos herumzappend beim öffentlich-rechtlichen Kabarett landete. Dafür habe ich in gesundem Zustand keine Zeit. Jetzt fehlte mir die Kraft im Daumen, um sofort weiterzuschalten. So begegnete ich einer eitel ausgespreizten, schlappen Stumpfheit, über deren Höhe, Tiefe und Weite ich mir bislang keinen Eindruck verschafft hatte. Ich war sprachlos. Zum Glück fand ich bei Max Goldt auch hierzu das Wesentliche. Schon vor über zwanzig Jahren schrieb er:

„Kabarettisten und ihr Publikum erwecken schon seit zehn, fünfzehn Jahren den Eindruck, es gebe nichts Lächerlicheres als gesunde Ernährung, Friedens- und Umweltaktivitäten, Emanzipation benachteiligter Gruppen etc. Traditionell steht der Bereich Kabarett/Satire in dem Ruf, im Auftrag der gesellschaftlichen Verbesserung unterwegs zu sein. Das entspricht längst nicht mehr dem tatsächlichen Bild. Kabarettisten und Comedians sind heute Handlanger des Backlash.“

P.S.: Besagtes Buch von Max Goldt ist in gebundener Form, als Taschenbuch oder Hörbuch leicht im Handel aufzufinden.

P.P.S: Kürzlich wurde ich auch einmal in einen Podcast eingeladen. Mit Claudius Grigat spreche ich bei Yeet über hate speech und bessere Manieren im Internet.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur