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Ungeimpft ist das neue Rauchen
Selber schuld, wenn man dann krank wird? Diese Debatte gehört nicht ans Krankenbett.
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
09.11.2021

Noch ein Herbst, in dem wir bang auf hochschnellende Corona-Zahlen schauen. Wieder schleicht sich ein "Vielleicht" in die Weihnachtspläne. Langsam haben wir es alle gecheckt: Die Pandemie ist noch nicht vorbei, wir müssen weiter mit Beschränkungen leben. Und wer ist schuld? Für viele ist die Antwort klar: die Ungeimpften. So schrieb kürzlich ein Kolumnist in der Frankfurter Rundschau: "Ich habe keine Lust mehr auf jene, die durch Ignoranz und Selbstversessenheit das verhindern, was man als normales Leben bezeichnet." Auch innerhalb des Gesundheitssystems werden die Vorwürfe deutlicher: „Da nehmen Ungeimpfte anderen Kranken die Betten weg – obwohl sie diese Betten mit Impfung gar nicht brauchen würden. Das ist doch eine unglaublich unsolidarische Einstellung“, sagt Isabella Heuser, Psychiatrie-Professorin an der Charité.

Selbst zahlen?

Unsolidarisch, verantwortungslos, egoistisch... Wer Nicht-Geimpfte so tituliert, wird auch bald nach Konsequenzen rufen. In der Schweiz ist man schon soweit: Dort forderte etwa der Politiker Mauro Poggia, dass Ungeimpfte im Falle einer Covid 19-Erkrankung die Krankenhauskosten selber tragen sollten. Und die Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli fände es angemessen, wenn diese Menschen ganz auf eine Spital- und Intensivbehandlung verzichten. Das könnten sie ja vorab in ihrer Patientenverfügung festhalten.

Wollen wir das auch? Die Debatte öffnen in Richtung: Selbst schuld? Wer vorher nichts tut, um gesund zu bleiben, soll nicht hinterher ankommen und Hilfe wollen? Klingt nachvollziehbar, aber ich habe damit Probleme. Krankheit mit der Schuldfrage zu koppeln, ist eine Sackgasse. Für wen wollen wir die Intensivbetten freihalten, welche die Ungeimpften angeblich unrechtmäßig blockieren? Für diejenigen, die "unschuldig" krank geworden sind? Die immer darauf geachtet haben, dass sie ihren Körper und Geist gesund halten?

Eigentor

Das geht nicht ganz auf. Was ist mit den Raucherinnen, Alkoholikern, Übergewichtigen? Den Extremsportlerinnen oder denjenigen, die niemals Pause machen? Sehr viele unserer Krankheiten hängen mit unserer Lebensweise zusammen. Die wir ändern könnten - und es dann doch nicht tun. Trotzdem können wir sicher sein, dass wir auch mit Raucherbein oder Burnout im Krankenhaus behandelt werden. Die Frage nach der Eigenverantwortung wird dort (hoffentlich) auch gestellt, aber sie ist eben nicht entscheidend für die Aufnahme.

Diese Unvoreingenommenheit ist grundlegend für unsere Gesundheitssystem. Wir sollten sie nicht angraben. Man kann über Impfpflicht diskutieren und über Zugangsbeschränkungen zu öffentlichen Veranstaltungen. Über den Zugang zur medizinischen Versorgung bitte nicht. Erst recht nicht als Druckmittel, um die Menschen zur Corona-Impfung zu bekommen. Das wäre ein Eigentor.

 

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Kolumne

Hanna Lucassen

Schwester, Schwester! Hanna Lucassen erzählt von Streiks, Spritzen und Sonntagsdiensten.