Seine ganze Karriere lang hat man Bob Dylan in Schubladen gesteckt. Er galt als "Protestsänger", "Rockpoet", als Jude, als wiedergeborener Christ und vieles andere. Jetzt, mit 80 Jahren singt Dylan: "In mir sind viele" – "I Contain Multitudes". Das bin ich alles. Aber alles zusammen.
In seinem Song auf der aktuellen CD "Rough and Rowdy Ways" (Sony, 2020) breitet er den Facettenreichtum aus: "I’m just like Anne Frank, like Indiana Jones / And them British bad boys, The Rolling Stones", singt er. Das muss man erst mal schaffen: Die Grausamkeit der Nazigewaltherrschaft mit hollywoodesker Erlösungskultur und Rockmusik in einem Atemzug zu nennen, ohne sarkastisch oder oberflächlich zu werden.
Uwe Birnstein
Das Viele-Sein dekliniert Dylan auf seinem neuen Album auch in religiöser Hinsicht durch und flicht erstaunlich viele Bibelstellen in seine Songs ein, besonders gern Schreckensvisionen des Jüngsten Gerichts. Jesus ist für ihn ein Hobo, ein "travelling man" und ein Bruder im Geiste.
Auch Jesus wurde ja mit vielen Etiketten behängt: "Aufrührer", "Sohn Gottes", "Weinsäufer", "König der Juden", "Retter", "Heiler", "Pazifist". Zu diesem Reisenden will Dylan sich bei Sonnenaufgang legen und Frieden finden. So kündigt er es im Lied "I’ve Made Up My Mind to Give Myself to You" an. Darin hört man ihn auf der Terrasse unter dem Sternenhimmel mit alter Stimme über das Leben sinnieren, im Hintergrund summt ein Chor die Melodie der "Barcarole" aus Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen". "Hätte ich die Flügel einer schneeweißen Taube, würde ich das Evangelium der Liebe predigen", singt Dylan und hofft, "dass die Götter es mir leicht machen."
Bob Dylan integriert auch die griechischen Götter
Das Album spiegelt eine Spiritualität wider, die sich nicht abgrenzen muss und auch die griechische Götterwelt integriert. Dylan bittet die "Mutter der Musen", sie möge für ihn singen. Damit meint er wohl Mnemosyne, sie gilt als "Mutter" der neun Musen, die Künstler in ihrem Schaffen inspirieren sollen. Mnemosyne ist die Göttin der Erinnerung. Wünscht sich Dylan, sie möge ihm alles aus seiner Vergangenheit ins Bewusstsein rufen, was ihm wichtig war? Die Kraft der Erinnerung, so scheint er zu hoffen, könnte ihn auch von Strafen für seine Sünden befreien. Und am Ende er zu ihr heimkehren: "Ich reise mit leichtem Gepäck und komme langsam nach Hause."
Aber dann ist er doch wieder bei der "old time religion". Sie sei das Einzige, was er brauche, singt er in "Goodbye Jimmy Reed", mit dem er den amerikanischen Blues-Gitarristen und Mundharmonikaspieler würdigt. "Schlag auf die Bibel, verkünde das Glaubensbekenntnis", fügt er hinzu und zitiert aus dem Vaterunser: "Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit." Dylan blickt auf den "Schalom", den großen Frieden am Ende unserer Reise.
Ihr müsst euch nicht festlegen!
Ob diese Interpretation stimmt? Dylan ist weise genug, viele Deutungen zuzulassen – seiner Lieder und seines Lebens. Vielleicht lässt sich seine Botschaft so zusammenfassen: Sucht Gott auf euren eigenen Wegen. Lebt eigensinnig: Bleibt euch darin treu, dass ihr weiter eure Fragen stellt – durch alle Veränderungen hindurch. Und fühlt euch entlastet: Ihr müsst euch nicht festlegen lassen – erst recht nicht, wenn es um den Glauben geht. Und am Ende dürft ihr auf einen gnädigen Gott hoffen.
Der Künstler formuliert – bisweilen mit wachrüttelnder Unbekümmertheit – eine tiefe Weisheit: In jedem Menschen schlummern viele Seiten, die ihr Recht einfordern. Eine Kunst ist es, sie miteinander zu versöhnen.
Lesetipp: Uwe Birnstein: Forever Young, Bob Dylan! Wie der Rock-Rebell Gott sucht, Eigensinn lebt und den Frieden besingt. Verlag Neue Stadt, 2021