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Es gibt Platten, die teilen die Musikgeschichte in ein Vorher und ein Nachher. Solch ein Album ist WHAT’S GOING ON von Marvin Gaye aus dem Jahr 1971. Vorher war Gaye einer der strahlendsten Soul-Sänger seiner Zeit: der „Prince of Motown“. Mit Tammi Terrell veröffentlichte er Duette, die ihn zu einem besonders sympathischen (aber auch ziemlich glatten) Superstar machten. Doch dann entschied sich Gaye für einen anderen Weg.
Tammi Terrell starb an einem Hirntumor. Das rigide Motown-Regime wurde ihm unerträglich. Polizeigewalt, Rassismus und Vietnamkrieg trieben ihn um. Er wollte endlich etwas Eigenes und Wertvolles schaffen. Nur durch einen Ein-Mann-Streik konnte er Motown-Chef Barry Gordy dazu bewegen, sein erstes Konzept-Album zu veröffentlichen. Es traf mitten hinein in einen politisch-kulturellen Umbruch und wurde ein ungeheurer Erfolg – nicht nur kommerziell, sondern auch ästhetisch. WHAT’S GOING ON ist die wichtigste Soul-Platte aller Zeiten. Sie gab ungezählten schwarzen Künstlerinnen und Künstlern die Inspiration, eigene künstlerische, engagierte Statements zu wagen. Bis heute. Darin liegt seine Größe, aber auch seine Tragik. Denn immer noch gibt es keine Antwort auf die drängende Frage: Was ist hier los?
WHAT’S GOING ON ist ein bitterer Kommentar zu den schreienden Ungerechtigkeiten seiner Entstehungszeit. Viele bestehen im Kern noch heute. Das Album versammelt aber nicht einfach protest songs mit plakativen Slogans. Das zeigt sich in der Musik, die geprägt ist von einer eigentümlichen Ruhe und Nachdenklichkeit. Die Texte sind eher fragend als anklagend, was sie umso eindringlicher macht. Was geschieht hier eigentlich? Warum tun Menschen sich so viel Böses an? Warum muss Krieg sein, und warum können wir nicht in Frieden miteinander leben? Wen kümmert es, wenn das Böse herrscht, und wer kümmert sich um all die von Armut und Unrecht bedrohten Kinder? Das sind Fragen, die gerade jetzt wieder mit neuer Schärfe gestellt werden – in den USA, aber auch in Europa.
Dazu passt, dass diese Platte eine unüberhörbare spirituelle Bedeutung besitzt. Einige Lieder sind getragen von einer eher untergründigen Sehnsucht nach Heilung. Andere sind unmittelbar christliche spirituals, aber eben von grenzüberschreitender Menschlichkeit. Sie singen von einem Glauben an einen Gott, der die Liebe selbst ist, dessen Sohn die Menschen die Liebe gelehrt hat, dem wir heute nachfolgen sollten.
Oh don't go and say things about my father
God is my friend
He made this world for us to live in
He gave us everything
And all He asks of us, is we give each other love
P.S.: „Einsamkeit – das zweite große Leiden unserer Zeit“. Darüber spreche ich mit Christof Jaeger, Leiter der studentischen Telefonseelsorge Hamburg. Man kann die neuen Folge meines Podcasts über die Website von reflab.ch oder Spotify hören.