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Kolonial-TV
Vor kurzem habe ich eine extrem erfolgreiche und ziemlich kolonialistische Fernsehsendung gesehen. Das kam so…
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
07.05.2021

Ein französischer Gast erzählte uns von der gegenwärtig erfolgreichsten Fernseh-Sendung in der Heimat. Wir hatten noch nie etwas davon gehört und haben deshalb mal reingeschaut. Und da einem beim Nachbarn schneller ins Auge fällt als hinter der eigenen Türschwelle, was falsch läuft, dachte ich mir schon nach wenigen Minuten: „Das hier ist aber ein ziemlich kolonialistischer Unfug!“

„Koh-Lanta“ heißt diese Spielshow, die junge Männer und Frauen auf eine Insel im fernen Südostasien führt, wo sie in Teams einen ungewohnten Alltag unter Palmen meistern und in allerlei Spielen gewinnen müssen. Ein unschuldiger Freizeitspaß, könnte man meinen. Wären da nicht all diese kolonialistischen Klischees:

Die Natur wirkt unberührt; die Einwohner kommen kaum vor, denn alles ist Bühne für die Gäste aus Frankreich; kommen die Einwohner aber vor, dann archaisch gewandet, mit Blumenkränzen auf dem Kopf; die Männer rudern in ihren pittoresken Kanus heran, die Frauen bringen lokale Köstlichkeiten; sagen dürfen sie nichts; manchmal sieht man sie im Vor- oder Abspann im Dunkeln seltsame Tänze aufführen, da mischt sich etwas Dämonisches ins Exotische, ebenso bei den gelegentlich ins Bild gestellten örtlichen Kult-Artefakten. Dass die Mitspielenden unterschiedliche Hautfarben haben, ist begrüßenswert. Bemerkenswerter aber ist, dass der Moderator immer diese halbmilitärischen Kolonialisten-Hemden aus Leinen und mit Schulterklappen trägt.

Als wir uns das eine Weile angeschaut hatten, bemerkte ich, dass sich hier doch ein erstaunlich ungebrochenes Verhältnis zu den früheren Kolonien zeige. Worauf der französische Gast sagte: „Non, ce sont les départements d'outre-mer!“

Es ist gar nicht so leicht, Kolonialismus und Rassismus zu bestimmen. Wo sind sie real da und wo strukturell wirksam? Erste Hinweise jedoch erhält man, wenn man sich eine einfache Frage stellt, nämlich die „Umgekehrt-Frage“. Sie geht so: Würde dieses Spiel auch funktionieren, wenn man es umdreht? So dass die Menschen von dort hierherkommen, um allerlei TV-Abenteuer zu bestehen? Während die Menschen von hier als pittoreske Gestalten stumm danebenstehen und für die rechte, exotische Atmosphäre sorgen?

Diese „Umgekehrt-Frage“ hilft übrigens auch bei der Beurteilung von touristischen Fernreisen (wie wäre es, wenn die Menschen von Bali an der Nordsee Ferien machten?), von karitativen Auslandsaufenthalten (wie wäre es, wenn kolumbianische Jugendliche armen Kindern im Wedding Englisch-Unterricht gäben?), von Wohltätigkeitsaktionen (wie wäre es, wenn Nigerianer ungefragt deutsche Altersheime bauten?) oder von ökologischem Engagement (wie wäre es, wenn Mexikaner das Rheinland aufforsten würden?).

P.S.: „Missbrauch aufklären – aber wie?“ Die Historikerin Ulrike Winkler hat dies in einer beeindruckenden neuen Studie über ein evangelisches Heim für Kinder und Jugendliche versucht. Mit ihr spreche ich einer neuen Folge meines Podcasts. Man kann sie über die Website von reflab.ch, Spotify oder Apple Podcasts hören.

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Lieber Herr Dr. Claussen,
Ihre "Umgekehrt-Frage" ist genial - und entlarvend für uns Eurozentriker:innen! Ich werde die Frage in meinem Unterricht und in meinem Umfeld verbreiten, damit wir unsere Einstellungen hinterfragen auf dem Weg zu weltweiter Geschwisterlichkeit!
Ein anderer Unterrichtsimpuls ist mir mit einer Karte gelungen, die zu meiner Ausstellung in Dreieinigkeit gedruckt worden ist (nach Peter Seeberg). Zur Frage des Enkels "Großmutter, wie ist das Leben?" habe ich Schüler:innen Antworten schreiben lassen :
Das Leben ist wie ein trockener Alkoholiker, der rückfällig wird
Das Leben ist wie eine Person, die dein größter Feind und größter Freund zugleich ist
Farben und Nervenzusammenbrüche
Schoko mit Glasscherben
...
Ob das vor Corona schon so ausgefallen wäre, bezweifle ich.
Lieben Gruß von Jutta Loch

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur