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"Und jedem Anfang", heißt es in einem Gedicht von Hermann Hesse, "wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben." Manche beschwören die Zauberkraft des Anfangs alle Jahre wieder – pünktlich zum 1. Januar. Da werden Pläne geschmiedet, gute Vorsätze gefasst, große Ziele in Angriff genommen, als sei das neue Jahr eine Art unbeschriebenes Blatt, auf dem man sich gewissermaßen ganz neu erfinden kann. Schrullen ablegen, schlechte Angewohnheiten über Bord werfen, Ausreden hinter sich lassen – immer wieder diese beinahe rührende Idee, es könnte plötzlich alles anders werden, nur weil sich die Jahreszahl ändert.
Annette Kurschus
Aller Anfang, das weiß der Volksmund, ist aber auch schwer. Bleibt schwer, immer neu. Egal, wie und wo und womit man anfängt: Immer bringt man mindestens sich selber schon mit. Wo auch immer man hinkommt und was immer man tut: Immer schon gibt es etwas oder jemanden, das oder der oder die vorher da waren. Und vor denen, die vor uns waren, waren auch welche. Und immer so weiter.
Echte Anfänge kriegen wir selten hin und selten zu sehen. Mittendrin, da kennen wir uns in der Regel wesentlich besser aus. Ob wir wollen oder nicht: Wir stecken mittendrin in lauter alten Geschichten. In Geschichten von Vertrauen und Liebe, zum Wundern und zum Staunen. In Geschichten, die wir nicht begonnen haben und in denen wir doch leben dürfen, die uns umgeben wie ein wärmender Mantel. Gott sei Dank! Auch Geschichten von Schuld und Streit und Misslingen tragen wir mit uns herum. Elende und mühsame Geschichten, mit denen wir nicht fertig werden. In jeden Anfang schleppen wir sie mit.
Dem menschlichen Maß auf der Spur
Das Jahr, das jetzt beginnt, wird in besonderer Weise gezeichnet sein von dem Jahr, das gerade vergangen ist. Wer könnte und wollte da so einfach neu anfangen? Auf nie gekannte Weise haben wir gespürt, wie verletzlich unser Leben ist – und wie wenig wir’s in der eigenen Hand haben. Das wird uns vorsichtig machen. Hoffentlich in manchem auch weise. Viele vermeintliche Selbstverständlichkeiten werden wir neu hinterfragen. Und uns über manche scheinbar kleine Geste neu freuen. Die Krise hat uns gezeigt, wie absurd es ist zu meinen, wir seien Herrinnen und Herren unserer Tage und könnten bis auf Jahre hinaus unser Tun und Lassen planen. Womöglich kommen wir auf heilsame Weise unserem menschlichen Maß auf die Spur.
Wir werden weiterhin neue Anfänge wagen, wie sollte es anders sein? Wir werden weiterhin Termine in unsere Kalender eintragen, als ließe sich planen. Und: Wir werden es anders tun als bisher. Weniger sicher, viel flexibler, stets auf der Hut, es könnte womöglich anders kommen – und immer voller Hoffnung, dass es selbst dann "irgendwie" gehen wird.
Jeder Tag ist ein neuer Anfang
"Gottes Güte ist jeden Morgen neu", heißt es in der Bibel. Für Menschen wie mich, die sich immer wieder schwertun mit dem Anfang eines neuen Jahres, ist das eine gute Gewissheit. Mitten in dem seltsamen "Anfangskater", der mich regelmäßig im Januar beschleicht, ahne ich: Jeder Tag ist ein neuer Anfang, den Gott mir schenkt.
Da muss nicht alles anders werden, nicht alles neu, erst recht nicht alles "sehr gut". Aber ich stehe auf und bin in ein neues Heute gestellt. Mit allem, was mir heute – vom Morgen bis zum Abend – mit meinen begrenzten Kräften möglich sein wird. Das klingt, als sei es zu schaffen. Das rückt alles Anfangen in ein freundliches, hoffnungsvolles Maß. Und das seltsame Katergefühl weicht sachte einer zuversichtlichen Neugier. In diesem Sinne: Ein gesegnetes Heute – und das 365 Mal im Jahr 2021!