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Bilder stürzen oder schützen?
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
19.06.2020

In diesen Tagen geschieht vieles, das epochal wirkt. Zum Beispiel die Bilderstürme in den USA, England oder Belgien: Kolonialistische und rassistische Denkmäler werden gestürzt. Man kann es verstehen, denn es handelt sich um hochproblematische Machtzeichen. Außerdem sind sie, was bisher kaum benannt wurde, auch ästhetisch ein Ärgernis, weil ziemlich scheußlich. Die Wucht, mit der sich der Zorn auf diese Bilder jetzt Bahn bricht, lässt einen übrigens an die Frühzeit der Reformation erinnern.

Im Kernland der Reformation dagegen geschieht gerade das Gegenteil davon. Dort, aber nicht nur dort, gibt es bekanntlich das Problem antijüdischer Schmähskulpturen an mittelalterlichen Kirchen. In Calbe in Sachsen-Anhalt wurde die schöne Kirche saniert und dabei auch eine dieser unschönen Skulpturen restauriert. Doch nach getanem Werk wollte die Kirchengemeinde sie nicht wieder anbringen, sondern in einem musealen Zusammenhang präsentieren. Doch der Denkmalschutz hat dies verboten. Zum Glück konnte ein Kompromiss gefunden werden: Die Skulptur kommt an ihren ursprünglichen Ort zurück, wird aber verhüllt. Auf dem Foto oben ist der gegenwärtige, vorläufige Zustand zu sehen. Aber es soll noch eine ästhetische Gestaltung gefunden werden. Die Christo-Idee für Calbe wird übrigens auch für andere Kirchen diskutiert. Mir gefällt sie, weil sie die schwierige Alternative von Bildersturm und Bilderkult überwinden könnte.

Sehr inspirierend fand ich auch einen Aufsatz, den Stephen Greenblatt vor kurzem im „New York Review of Books“ veröffentlicht hat. Darin schildert der bekannte Historiker einen Besuch in der katalonischen Kleinstadt Elche. Seit dem Mittelalter wird dort einmal im Jahr in der Basilika ein Mysterienspiel über die Himmelfahrt Marias aufgeführt: mit uralten Liedern, beziehungsreichen Versen, prächtigen Kostümen, einer kuriosen Bühnentechnik, unter Beteiligung der ganzen Stadtbevölkerung. Wunderschön das alles, wenn da nicht diese eine Szene wäre: Mitten im Stück kommen Juden, um Marias Leichnam zu rauben, mit großer Macht drängen sie vor, dann geschieht ein Wunder, und die Juden bekehren sich zu Christus. Man kann es auf diesem YouTube-Clip sehen (ab Minute 1.48). Als Greenblatt sein Unbehagen darüber äußerte, verstanden seine Gastgeber ihn zunächst nicht. Dabei wollte er diese Tradition nicht grundsätzlich in Frage stellen. Er wollte nur zu einem bewussten Umgang mit ihr anregen. Dazu machte er einen kleinen, feinen Vorschlag: Wie wäre es, wenn beim nächsten Mal alle Mitspielenden durch ihre Kostüme als Juden zu erkennen wären? Das würde die Schärfe herausnehmen und wäre auch historisch angemessen. Es wäre doch besser, Traditionen kritisch-konstruktiv fortzuschreiben, als sie abzuschaffen. Mir leuchtete das ein, aber ich weiß natürlich, dass dies nicht in jedem Fall möglich ist. Manchmal müssen Traditionen und Denkmäler einfach weg.

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Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur