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Hand aufs Herz – wie oft haben Sie diese ewig langen Namenslisten in der Bibel überblättert? Wie oft habe ich es getan? Für unser heutiges Leben hätten, so dachte auch ich, diese Aufzählungen keine Bedeutung mehr.
Michael Blume
Und dann befasste ich mich wissenschaftlich mit dem Anti-Sem-itismus und wurde zum Landesbeauftragten gegen Antisemitismus in Baden-Württemberg berufen. Plötzlich trug ich den Sem in meiner offiziellen Amtsbezeichnung, verliehen von Parlament und Regierung. Aber warum Anti-Sem-itismus? Warum nicht einfach ein Beauftragter gegen Judenfeindlichkeit oder gegen Rassismus?
Sehr viele Menschen glauben, Semiten – die Kinder Sems – wären eine "Rasse" aus Juden und Arabern. Aber Menschenrassen gibt es sowieso nicht, hier geht es um die Angehörigen einer sprachlich und kulturell verwandten Gruppe unterschiedlicher Völker. Als ich dieser Spur nachging, landete ich bei Ernest Renan (1823 – 1892), der den jüdischen und arabischen Sprachen vorwarf, besonders "inflexibel" zu sein und die Entwicklung der Kulturen zu bremsen: eine These, die schon 1860 von Chajm Heymann Steinthal als "antisemitische Vorurtheile" entlarvt wurde.
Schem ist nicht irgendein Name - sondern der Name
Nun endlich wandte ich mich den Quellen zu – der Bibel und den Auslegungen jüdischer Schriftgelehrter vom Talmud bis zu heute aktiven Forschern und Gelehrten wie dem britischen Großrabbiner Lord Jonathan Sacks.
Ich fand heraus, dass Sem, hebräisch Schem, nicht irgendeinen Namen bezeichnet, kein Name ist, sondern einfach das hebräische Wort für "Name", wie in HaSchem ("der Name" = Gott!). Wir kennen die Holocaustgedenkstätte Yad va Schem ("Denkmal und Name"). Und Sem galt und gilt schon in den frühesten Auslegungen gerade nicht als Begründer einer "Rasse" – es gibt Jüdinnen und Juden aller Herkunft und Hautfarben –, sondern als der erste Lehrer auf Basis einer Alphabetschrift. Auch dieser Begriff ist aus dem Hebräischen abgeleitet: Aleph, Bet – Rind und Haus. In den griechischen Worten Alpha, Beta sind die Bedeutungen entfallen.
Sem als erster Lehrer einer Alphabetschrift: das stimmt mit archäologischen Forschungen überein: Das erste Alphabet finden wir 1700 v. Chr. auf dem Sinai. Und so wie Sem als direkter Vorfahr von Eber und somit als Namensgeber und Urvater aller Hebräer gilt, so entwickelten sich aus dem Ur-Alphabet die Alphabete der Hebräer, Phönizier, Griechen, Lateiner, Araber.
Der erste Lehrer für die Massen
Im Gegensatz zu den babylonischen, chinesischen und ägyptischen Schriften, die aus Hunderten bis Tausenden von Schriftzeichen bestanden, bestehen klassische Alphabete aus bis zu 30 Buchstaben. Sie sind damit nicht nur für die Kinder der Eliten, sondern buchstäblich kinderleicht zu lernen. So berichtet schon der Talmud, Sem habe nicht nur seinen Nachfahren Avraham das Lesen und Schreiben gelehrt, sondern auch dessen Sklaven Elieser. Zum ersten Mal in der Geschichte wird eine Gesellschaft denkbar, in der jeder von klein auf alphabetisiert werden kann. Wenn die Eltern von Jesus den Zwölfjährigen im Jerusalemer Tempel finden, wie er mit Schriftgelehrten diskutiert, so kommt uns das heute wie eine nette Geschichte einer Hochbegabung vor.
Aber tatsächlich gab es vor 2000 Jahren keine andere Kultur auf der Erde, in der auch der Sohn eines Zimmermanns selbstverständlich Lesen und Schreiben lernte! Mit dem Judentum beginnt das Zeitalter der Schrift-, Buch- und Bildungsreligionen mit linearen Kalendern und Fortschrittshoffnung, und bis heute wird das Erwachsenwerden eines jüdischen Kindes in der Bar-Mizwa (Junge) beziehungsweise Bat-Mizwa (Mädchen) durch ein Vorlesen in der Synagoge gefeiert; dann bejubelt durch Glückwünsche und Bonbonregen.
Der Semitismus ist also eine gewachsene Medien- und Mythentradition mit weltweiten Auswirkungen. Und die größten Schätze finden sich nicht selten auch in vermeintlich langweiligen Passagen.
"Und auch Sem, dem Vater aller Söhne Ebers und älteren Bruder Jafets, wurden Söhne geboren."