- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Wenig ist so interessant und lustvoll, wie der Blick hinüber zum Nachbarn. Nur Übervornehme tadeln dies als aufdringlich-unanständige Neugier. Es ist doch ein tiefes Bedürfnis, wissen zu wollen, wer da nebenan wohnt und was er so treibt. Ganz besonders interessant, aber auch ängstlich geht der Blick zum Nachbarn, wenn es dessen Haus noch gar nicht gibt, sondern es erst gebaut wird.
So blicke ich als mit St. Matthäus verbundener Theologe auf das in Planung und Bau befindliche Kunstmuseum nebenan. In diesem Blick schwingt neben schamloser Neugier ein grundsätzliches Interesse an dem Verhältnis von christlicher Religion und moderner Kunst mit. Aber für allgemeine Begriffe und abstrakte Theorien kann ich mich kaum erwärmen. Denn mich interessiert etwas anderes: das konkrete Nachbarhaus aus Stein und Glas, seine realen Räume innen und außen, die einzelnen Werke, die hineingetragen werden. Darum steige ich jetzt in Gedanken auf den Turm von St. Matthäus, um von dort aus einen freien Blick auf die benachbarte Baustelle zu werfen und träumend Ausschau zu halten.
Ich halte Ausschau nach lebendigen Bildern, die aus sich selbst heraus leuchten, auch wenn ihre Schöpfer schon lange tot sind. Die für sich stehen, weil sie eine bleibend gültige Form besitzen. Die also 1. nicht Belege für eine These oder Illustrationen eines Konzepts sind; 2. nicht Stationen auf einem imaginären Pfad des Fortschritts sind; 3. keine Reste eines avantgardistischen Experiments, das längst durchprobiert ist; oder 4. früher einmal eine Provokation dargestellt haben (denn Provokation als künstlerisches Projekt hat ausgedient, das haben längst die Rechtspopulisten übernommen). Nach Bildern sehne ich mich, die vor allem 5. eines nicht sind: Markenzeichen eines ökonomisch erfolgreichen Kunstunternehmers, Instrumente seines self-brandings.
Ich halte Ausschau nach Bildern, die mir etwas zeigen, das nicht sichtbar ist. Die mir etwas vor Augen stellen, das nie war oder sein wird und dennoch jetzt, im Moment der Betrachtung, da ist. Bilder, die, je länger ich mich in sie versenke, durchsichtig werden für ein Jenseits aller Bilder.
Ich halte Ausschau nach Bildern, die mich aber nicht entrücken, sondern meinen Sinn für das Ganze des Menschlichen wecken, sein Maß und seinen Gehalt, seine Grenzen und Abgründe, seine gestaltende Kraft und zerstörerische Wut, Schmerz und Lust, Altern und Würde, Begehren und Verlieren, Güte und Ungerechtigkeit, Sterben und Gebären, Liebe und Hass, das Böse und das Gute.
Nach solchen Bildwerken halte ich Ausschau und frage mich, wie das Haus denn sein wird, das sie beherbergen soll. „Scheune“ wird sie im Volksmund genannt. Das ist ein theologisch schöner, sinnreicher Name. Eine Scheune ist ein großes Haus mit offenen Toren und einem weit aufgespannten Dach, unter dem vieles Platz findet: die eingebrachte Ernte, Gutsherren und -damen, Mägde und Knechte, Tiere und Menschen, Geräte und spielende Kinder, Landstreicher und Flüchtlinge, die Schutz suchen für eine Nacht oder zwei, um dann gestärkt weiterzuziehen. Es sollen auch schon Kinder dort geboren worden sein. Eine Scheune ist zudem ein praktisches Haus, der Arbeit und Mühe, der Entsagung und Anstrengung, aber auch des Einfahrens und Aufbewahrens der Ernte, der klugen, nüchternen Haushalterschaft. Also kein Palast, kein Prestigebau des privilegierten Besitzens und selbstgefälligen Genießens. Und auch kein Wirtshaus, in dem konsumiert, also verzehrt und aufgebraucht wird, in dem die Gegenwart sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft verschlingt. Eher ist eine Scheune ein Gebäude der Armut und des Wagemuts.
Wenn ich mir nun vorzustellen versuche, wie ich dann einmal durch diese Scheune wandeln werde, frage ich mich, wie ich dort die Bilder betrachten werde, nach denen ich mich sehne. Betrachten nun heißt verweilen. Das braucht Zeit und Stille. Bilder anzuschauen ist keine leichte Sache, so schön es auch ist. Man muss einkehren bei ihnen. Einkehr bedeutet aber auch Abkehr, allein und für sich sein mit einem Bild. Oder auch mit anderen zusammen davorstehen, eine Weile lang und die Erfahrungen teilen, die plötzlich da sind. Wird die Scheune ein intensives individuelles oder gemeinschaftliches Betrachten und Bedenken, Nachsinnen und Nachdenken ermöglichen? Wird darin genug Raum, Zeit, Schweigen, Empfinden, Licht und Dunkelheit sein, damit man am Ende des Besuchs anders hinausgeht, als man hingekommen ist?