"Ich habe zwar mit diesem ganzen Christentum nix am Hut. Doch Weihnachten ist eine gute Idee. Das feiern wir mit unserer Familie gerne", ließ mich Vera K., eine Anwältin aus Leipzig, neulich auf einer Zugfahrt nach Frankfurt wissen. Ihr sei bekannt, dass es "um den Geburtstag dieses Jesus gehe", aber das sei nicht so wichtig. Seine Anhänger, die Christen, hätten ja "nur ein Fest geklaut", das es schon lange vorher gegeben habe: "Früher haben sie zur Wintersonnenwende den Sonnengott bejubelt und sich gefreut, weil die Tage wieder länger wurden." Immerhin ein christliches Gebot findet Vera "spitze": "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Da denke ich an meinen Mann, meine Eltern und meine Kinder."
Arnd Brummer
Bin ich dieser Frau zu tolerant begegnet?, dachte ich, als ich vom Bahnhof in die Fußgängerzone spazierte. Hätte ich ihr nicht deutlich sagen müssen, dass Nächstenliebe sich nicht auf die Familie beschränkt? Rumms! Fast hätte mich ein mit Weihnachtseinkäufen voll bepackter Passant auf den Beton geknallt. "Tschuldigung", rief er und eilte weiter. Ich hatte mich mit der linken Hand gerade noch an einem Lampenmast festhalten können.
Ich mag dieses Einkaufsviertel eigentlich ganz gerne. Nur in der Adventszeit fühle ich mich zwischen der aus allen Schaufenstern blinkenden Leuchtreklame und den Kundenmassen wie auf einer merkantilen Geisterbahn. Das Gespräch mit Vera kam mir wieder in den Sinn und ihr Spruch vom "geklauten Fest". Was würde wohl Jesus sagen, wenn er mir jetzt begegnen würde? Herr, ist Weihnachten als Shopping-Festival eine Feier in deinem Sinne?
"Hallo, mein Bruder, mein Name ist Jesus."
Während ich darüber nachdachte, klang aus einem Lautsprecher "Morgen kommt der Weihnachtsmann". Die Melodie mag ich. Aber der Text aus der Feder des Poeten Hoffmann von Fallersleben ist, Gott sei Dank, nur noch wenigen bekannt: "Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben. Trommel, Pfeife und Gewehr, Fahn’ und Säbel und noch mehr, ja ein ganzes Kriegesheer, möcht’ ich gerne haben."
Vor einem Fitnessladen trat mir ein junger Kerl in den Weg. "Hallo, mein Bruder", begrüßte er mich, "mein Name ist Jesus. Auf deine Frage antworte ich gerne. Ich freue mich, wenn die Menschen sich nahekommen, wenn sie feiern und fröhlich sind, einander ihre Liebe zeigen. Natürlich schätze ich es, wenn sie sich dabei meiner Geschichte erinnern. Ob sie dies in einem kirchlichen Gottesdienst tun, zu Hause oder bei der Weihnachtsfeier im Sportverein, ist nebensächlich. Meine Menschwerdung bedeutet: Gott ist unter euch und nicht nur irgendwo im Weltall!"
Plopp! Weg war er, der Jesus!
Jesus vor dem Shoppingcenter – ogottogott! Wenn ich diese Story erzähle, halten mich die einen für besoffen oder wahnsinnig, die anderen für einen eingebildeten Frömmler. Egal. Vera K. hat mir ihre Visitenkarte mit E-Mail-Adresse überlassen. Ich werde ihr mitteilen, dass der Gottes- und Menschensohn Heiligabend bei ihr auftauchen wird. Denn auch "ohne Christentum am Hut" gilt weltweit die von Matthäus übermittelte Botschaft Jesu: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen."
Plopp! Weg war er, der Jesus! Und ich stand ohne ihn vor dem Fitness-Shop. Was muss ich noch fürs frohe Fest besorgen? Einen Skipullover für meine Nichte, einen Roman für meine Schwester. Und – ganz wichtig – Wein für unser weihnachtliches Abendessen. Ich möchte mich nicht auf Jesu Mutter Maria verlassen, die bei der Hochzeit zu Kana ihren Sohn motivierte, sechs Eimer Wasser in Wein zu verwandeln. Heiligabend hat die Gebärende – weiß Gott! – dafür keinen Kopf. Einen schönen Advent wünsche ich!