Drei- bis viergeschossige Häuser säumen die kleinen Straßen in Dortmunds Norden. Manche sind mit Stuck verziert und viele frisch renoviert. Der Nordmarkt bildet das Zentrum, ein parkähnlicher Platz mit alten Platanen. An diesem Frühjahrstag ist das Wetter so schön, dass junge Leute mittags auf den Bänken am Markt sitzen, Kinder spielen. Auch einige Obdachlose genießen die Sonne.
Die günstigen Mieten und der urbane Flair locken Studierende ins Viertel. An vielen Ecken haben Kioske und Internetläden geöffnet. Hier wohnen Menschen aus 130 Nationen. Fast drei Viertel der Bewohner in der Nordstadt haben eine Einwanderungsgeschichte, in ganz Dortmund sind es nur 15 Prozent. Unter ihnen sind viele Rumänen und Bulgaren, vor allem Roma aus dem bulgarischen Plowdiw. 2018 hat die Stadt Dortmund 1850 Zuzüge in die Nordstadt registriert. In einzelnen Jahren sind aber auch schon mal 6000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien zugezogen.
Dortmund-Nord wirkt nur auf den ersten Blick idyllisch. Es hat mit großen sozialen Problemen zu kämpfen. Hinterhöfe vermüllen. Kinder wachsen in verwahrlosten Wohnungen auf. Über 20 Prozent der Anwohner sind arbeitslos. Ganz Dortmund hat im Schnitt eine Arbeitslosigkeit von zwölf Prozent.
Einiges hat sich auch zum Besseren verändert: Die Stadt und private Investoren haben sogenannte Problemhäuser aufgekauft und saniert. Die Vorbesitzer hatten die Häuser verkommen lassen und zu überhöhten Preisen vermietet. Häufig wurden einzelne Zimmer oder auch nur Betten untervermietet. Früher boten Tagelöhner ihre Dienste am Straßenrand an. Sie sind verschwunden, seit sich das städtische Ordnungsamt in einem Ladenlokal dort einquartiert hat. Der Drogenhandel hat abgenommen, seitdem regelmäßig Streifenwagen patrouillieren.
Auch die Arbeit der Kirchen zeigt Wirkung. Zum Beispiel das Projekt "Willkommen Europa". In einer ehemaligen neuapostolischen Kirche in einer Nebenstraße des Nordmarkts haben Diakonie, Caritas und die gemeinnützige Gesellschaft Grün-Bau eine Anlaufstelle für Zuwanderer eingerichtet.
Die 25 Mitarbeiterinnen und zwei Mitarbeiter, ein Team aus Psychologen, Pädagogen, Philologen und Wirtschaftwissenschaftlern, sprechen Bulgarisch, Englisch, Italienisch, Kroatisch, Mazedonisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch und Türkisch. Sie haben vergangenes Jahr 2000 Menschen beraten, die auf der Suche nach Arbeit nach Deutschland kamen und hier strandeten. Sie arbeiten eng mit den Dortmunder Behörden zusammen, vor allem mit dem Jugendamt und dem Jobcenter.
Die muttersprachlichen Sprechstunden sollen ein erster Schritt zur Selbsthilfe sein, um Arbeit zu finden und sich an die Regeln zu halten. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle helfen den Familien aber auch beim Kontakt mit den Schulen und Behörden.
Die Anlaufstelle ist leicht zu finden, die Vorderfront der ehemaligen Kirche hebt sich zwischen den Wohnhäusern ab. Innen lassen nur noch die hohen Räume erkennen, dass dies einmal ein Sakralraum war.
Wohnung verloren, Arbeitsbescheinigung fehlt, Krankenversicherung abgelaufen
"Manche denken, die Menschen kämen nur nach Dortmund, um Kindergeld zu kassieren", sagt Johanna Smith, die Projektkoordinatorin von der Diakonie: "Doch sie irren. Denn das bekommt nur, wer auch Arbeit hat." Smith kam selbst als Kind aus Bulgarien und hat das Projekt mitausgedacht. Als sie 2011 mit ihren Bulgarischkenntnissen als Mitarbeiterin der Diakonie erstmals vor den Grundschulen der Dortmunder Nordstadt Kontakt zu Kindern und Eltern suchte, versammelte sich eine große Menschentraube um sie und bestürmte sie mit Fragen. Das war der Anfang des Projekts.
Heute warten etwa 50 Menschen in einer langen Schlange, um einer der muttersprachlichen Mitarbeiterinnen zugeordnet zu werden. Bei der bulgarisch sprechenden Beraterin Elena Genova sitzen zwei Frauen mittleren Alters. Eine hat das schwarze Haar zu einem dicken Zopf zusammengebunden: Neli Pamakova hat ihre Freundin mitgebracht, bei der sie vorübergehend untergekommen ist. Pamakova verlor ihre Wohnung, ihr fehlt eine Arbeitsbescheinigung. Außerdem ist die Krankenversicherung abgelaufen. Von ihren fünf Kindern geht eines aufs Gymnasium, eines in die Gesamtschule, nun soll ein drittes Kind eingeschult werden.
"So viele Baustellen", sagt Elena Genova. Die 42-Jährige studierte in Sofia und Münster Sozialarbeit. Sie wollte nur für ein Auslandsjahr nach Deutschland, ist aber seit Beginn des Projektes 2014 dabeigeblieben. Mit welchem der vielen Probleme könnte Neli Pamakova anfangen? Genova bespricht sich mit Johanna Smith.
Die Projektkoordinatorin berät ihre Mitarbeiterinnen nicht nur, wenn eine Situation so verfahren ist wie bei der besorgten bulgarischen Romafrau. Sie muss auch eingreifen, wenn es mal laut wird oder wenn jemand weint.
Hier fragt keiner, warum jemand die Wohung verloren hat oder an welchen Gott jemand glaubt
Außerdem werden alle Fälle in einer täglichen Konferenz besprochen. In der Anlaufstelle fragt keiner, warum jemand die Wohnung verloren hat, wieso kein Arbeitsvertrag vorliegt oder an welchen Gott jemand glaubt. Hier gilt: nach vorne blicken. "Es sind die Ärmsten, die in der Dortmunder Nordstadt ihr Glück suchen und bei uns Hilfe finden", sagt Johanna Smith. Das soziale Netz für EU-Migranten habe tiefe Löcher.
Mittlerweile gilt "Willkommen Europa" EU-weit als Vorzeigemodell. Regelmäßig bekommen die Mitarbeiterinnen Anrufe aus Kommunen und Ländern, die ähnliche Wege gehen wollen.
"Hinterm Horizont . . .": Die Führung des Diakonischen Werks im Rahmen des Kirchentags startet am Samstag (22.6.) um 15 Uhr bei der Bahnhofsmission, Dortmunder Hauptbahnhof – ohne Anmeldung. Die Führung ist nicht im offiziellen Kirchentagsprogramm angekündigt.
International, vielfältig, integrativ – die Nordstadt. Führung des Instituts für Kirche und Gesellschaft am Donnerstag und Freitag ab elf Uhr. Start: Machbarschaft Borsig11 am Borsigplatz 9.
Weltmusikkonzerte: Donnerstag ab 13 Uhr, Freitag 11 bis 15 Uhr, Samstag 11 bis 19 Uhr. Wichern Kultur- und Tagungszentrum, Stollenstraße 36.