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Liebe Anne,
eben habe ich deinen letzten Brief gelesen: Die Geschichte der vergänglichen Porzellankirche passt so wunderbar zu meiner Stimmung. Ich sitze am offenen Fenster, die Füße auf der Fensterbank, und lasse den Frühling in deine Wohnung. Den ganzen Tag war ich in der Stadt unterwegs, so viele Eindrücke einsammeln wie möglich, nun versinkt die Sonne langsam zwischen zwei Häusern auf der anderen Straßenseite. Es ist mein letzter komplett freier Tag in Frankfurt, am nächsten Samstag fahre ich schon wieder nach Dresden. Ich werde ganz unruhig, wenn ich daran denke – weil ich mich so freue, dann endlich mein Zuhause wiederzusehen; und weil ich mich gleichzeitig davor fürchte, wieder ein Stück von mir zurücklassen zu müssen.
Bestimmt kennst du das Gefühl, du hast ja auch schon in verschiedenen Städten gelebt: An jedem Ort, an dem man für längere Zeit wohnt, ist man jemand anderes, man hat andere Hobbys, andere Freunde, man spricht sogar anders. Und wenn man diesen Ort verlässt, bleiben Dinge zurück – manche Hobbys, manche Freunde, bestimmte Ausdrücke. Erst wenn man irgendwann zurückkehrt, auch nur zu Besuch, fällt einem wieder ein, wer man gewesen ist – und dieses Gefühl ist für mich meist mit einem bittersüßen Schmerz verbunden.
Gestern war ich seit Langem wieder einmal in Würzburg. Mit meiner besten Freundin aus dem Studium treffe ich mich in unregelmäßigen Abständen dort, um die Orte abzuklappern, die uns früher einmal wichtig waren. Während wir von der Kirche, in der wir unsere Abschlusszeugnisse bekommen haben, zu dem Café spazierten, in dem wir immer Kässpätzle gegessen haben, fragte sie mich plötzlich, ob alles in meinem Leben so gekommen sei, wie ich es mir damals, mit Anfang 20, vorgestellt hatte. Erschreckenderweise hatte ich mich das selbst noch nie gefragt, ich kam aber schnell zu dem Ergebnis: nein, überhaupt nicht.
Wer ich einmal gut zehn Jahre später sein würde, konnte ich mir damals beim besten Willen nicht vorstellen. Genau so wenig wie ich mir jetzt ein Bild von mir in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren machen könnte. Zum Glück! Wie viele wunderbare Dinge, die ich nie geplant hatte, sind in der Zeit passiert. Allein dieser Austausch mit dir. Wie viele tiefe Wunden hat aber auch jede größere Veränderung geschlagen. Manchmal fühlt es sich an, als könnte ich alle Puzzleteile meines Lebens nie mehr zu einem stimmigen Bild zusammenfügen.
Aber wenn ich dann wieder einmal durch ein früheres Zuhause gehe, ist mein Ich von einst plötzlich wieder da. Gestern war ich Anfang 20 und hatte Angst, die Bücherliste nicht bis zur Klausur zu schaffen. Vielleicht werde ich einmal an diesem Haus hier in Frankfurt vorbeigehen und nach oben zum Fenster sehen, so wie jetzt die ältere Dame, die ein wenig empört schaut, weil ich ihr so dreist meine Katzenstrümpfe präsentiere. Und ich werde ganz wehmütig sein, weil ich einmal (viel zu kurz) Frankfurterin war – so wie einmal Würzburgerin, Dresdnerin, Leipzigerin, sogar Engländerin. Oder besser: eigentlich noch bin.
Ich glaube, der Begriff, um den ich hier die ganze Zeit herumschreibe, ist Heimat. Das alles ist Heimat für mich, auch Frankfurt jetzt. Viel mehr als Kategorien wie „der Osten“ und „der Westen“. Ich glaube, dass es vielen jungen Menschen heute so geht. Vielleicht – hoffentlich – werden wir „Ossi“ und „Wessi“ irgendwann gar nicht mehr brauchen.
Die Sonne ist nun ganz hinter einem Haus verschwunden und auf einmal ist es ziemlich kühl. Ist etwa immer noch Februar? Ich gehe jetzt in die Küche und mache mir Grüne Soße mit Kartoffeln. Aber auf keinen Fall warm! Also nur die Kartoffeln – die Soße essen wir hier traditionell kalt.