30.11.2010

Ich war elf Jahre alt und tobte verdreckt über hessische Feldwege, als in der Essener Gruga-Halle die Vorbereitungen begannen: Scheinwerfer wurden installiert, Kameras in Position gebracht und Übertragungswagen mit Strom versorgt. Billy Graham wollte in Westdeutschland Gottes Wort verkünden: Euro 70. Das war damals keine Preisangabe, sondern eine Kampagne, der Missionar nannte sie crusade, Kreuzzug. Er war Baptist, wir auch: Ein Glaubensbruder im Rampenlicht, endlich waren wir auch mal wer.

Grahams Predigt wurde live von Essen aus in andere Großstädte übertragen: public viewing, der Mann war seiner Zeit weit voraus. Meine Eltern packten ihre fünf Kinder ins Auto und fuhren nach Kassel, so saß ich abends frisch gebadet und staunend vor einer riesigen Leinwand. Für mich war dieser Fremde, der da übergroß mit der Bibel winkte, mutiger Heerführer Josua, sanfter König David und donnernder Johannes der Täufer in einer Person. Das waren die Helden meiner Kindheit, ich hatte die Bibel intus, bei Gott! , von vorn bis hinten und zurück gehört und gelesen.

Mich hatten schon etliche Prediger in zugigen Zelten geschüttelt (kennt einer noch Richard Kriese?) oder in hauseigenen Versammlungen ermüdet. Nun aber rief mich der Herr international und multimedial, und ich wollte meinen Eltern gefallen. Alle in der Familie waren Baptisten, die Großeltern und Urgroßeltern sogar. Dennoch wird man nicht als Baptist geboren, jeder Einzelne muss eine eigene Liebesgeschichte mit Gott beginnen, mit genauem Datum, versteht sich. Meine drei älteren Geschwister waren bekehrt, ich war die Vierte; mir wurde Euro 70 als Markierung geboten wie ein Initiationsritus, natürlich habe ich diese Gelegenheit genutzt.

"So wie ich bin, komm ich zu dir", dieses Lied sang der Chor, als ich vor die Leinwand trat. Ich wusste mit elf Jahren noch gar nicht, wer ich war und wie ich bin. Ich sollte schlecht sein und alle Sünden bereuen, hatte aber außer einem verprügelten Nachbarsjungen und einer Menge viergeteilter Regenwürmer nichts zu bieten.

Ich träume von einer Kirche, in der Kinder unschuldig bleiben dürfen

Ich träume von einer Kirche, in der Kinder unschuldig bleiben dürfen und schuldige Erwachsene endlich wagen, den Mund aufzumachen.

Meine persönliche Nachfolge hatte Struktur: Sonntagsschule, Gottesdienst, Bibelstunde, Jungschar, Teenagerkreis, Chorprobe. Kinderbibelwoche, Freizeiten und Zeltlager. Ich habe diese Aktivitäten nicht nur besucht, ich habe sie später selbst organisiert, habe Kindern und Jugendlichen ein prächtiges Entertainment geboten, auf dass wir uns alle miteinander großartig fanden. Die Gemeinde war eine Insel, wir waren nicht von dieser Welt. So habe ich zu wenig Zeit mit vernünftigen Büchern oder anderen Leuten verbracht und zu selten im Urlaub gefaulenzt. Gravierend war die fundamentale Einordnung der Welt in gut-böse, weltlichfromm, gerettet-verloren, schwarz-weiß. Wenn es also doch mal weltliche Phasen in meinem Leben gab, waren die nicht von Pappe oder schlechten Eltern. Ganz-oder-gar-nicht ist auch fundamental. Wer nicht in aller Offenheit etwas versuchen darf, übertreibt es gern und wählt ein Doppelleben. Deshalb liest man oft von prominenten Fernsehpredigern im Schmuddelmilieu oder, wirklich ekelhaft, von pädophilen Tätern im Talar.

Andere Gläubige schlugen sich mit Scheinheiligkeit durchs Leben: Ich habe miterlebt, als ein Bruder seinen strafunmündigen Enkel anstiftete, eine gut versicherte Scheune versehentlich in Brand zu stecken, "hier hast du Streichhölzer, mein Kind". Und als die schöne Summe der Versicherung seinen Bungalow finanzierte, sang er fröhlich im Gottesdienst sein "Lobet den Herrn".

Und was wollten sie mir nicht alles weismachen? Die wunderbar komplizierte Welt sei in sechs Tagen erschaffen worden, die gesamte Erde mit all ihren archäologischen Funden erst 6000 Jahre alt, dabei hatte ich selbst ein Fossil im Dreck gefunden. Ich sollte nicht hinterfragen, wie König David an seine Frau Batseba gekommen ist, ich sollte das Hohelied der Liebe symbolisch verstehen. Den Zusammenhalt zwischen Rut und Naomi sollte ich mir als Beispiel nehmen; deren Art aber, einen Mann zu angeln, nicht. Abrahams Mordversuch war gottgewollt, Paulus' unsägliches Frauenbild Programm: Also kleide dich züchtig und schweige still. Ich habe die Bibel kaum studiert, ich bin damit bevormundet worden.

Ich träume von einer Kirche, in der mehr gefragt als beantwortet wird

Ich träume von einer Kirche, in der mehr gefragt als beantwortet wird. Von Predigten, die meinen Verstand reizen, statt mich für dumm zu verkaufen. Statt Lebenswege zu suchen, hatte ich zu bitten, dass der Herr mir meine Wege weist, man wurde berufen oder beauftragt. Dieses Prozedere ging oft zu weit: Mit achtzehn Jahren vertraute ich einem Pastor sehr, der ein besonders enges Verhältnis zum Himmel hatte. Mir nichts, dir nichts konnte er mir deshalb mitteilen, dass es dem Herrn gefalle, wenn ich jenen Dingsda aus Soundso heiratete. Ich kannte den Kerl kaum, und er war zum Glück so derart unmöglich, dass ich dem Pastor abzusagen wagte. Das ist leider zu selten geschehen.

Meine Sehnsucht, recht zu glauben, grenzte an Aberglauben. Ich habe Gott in entscheidenden Fragen um ein Zeichen gebeten: Willst du, dass ich dieses tue, dann lass es heute regnen. Erlaubst du mir, dass ich jenes wähle? Wenn der Tagesschausprecher sich gleich verhaspelt, weiß ich Bescheid. Verunsicherte Menschen ersehnen Wegweiser, ich träume von standhaften, die das nicht ausbeuten.

Icht träume von einer Kirche, in der man den freien Willen achtet

Icht träume von einer Kirche, die das höchste Gut eines Menschen, seinen freien Willen, schult und achtet. Ein Mensch hat das Recht zu glauben oder nicht, er hat sogar das Recht nicht zu wissen, ob er glaubt.

So, die Kollekte fehlt noch: Manchmal haben Opa und Tante mir ein paar Mark geschenkt, oder ich habe als Studentin bei einem Nervenarzt geputzt (das war keine Therapie, das war ein Job, ich bitte Sie! ); es war immer klar, dass ich meinen Zehnten davon dem Gemeindekassierer gebe, das bedeutete bei uns wirklich zehn Prozent von allem. Mir war bedeutet worden, dass es eine Ehrensache ist, sich an diese alttestamentarische Regel zu halten, sonst würde Gottes Stirn gewaltig runzeln über mir.

Mein Milieu gab es nicht nur zu meiner Jugendzeit, Evangelikale leben nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern hier und heute. Christliche Fundamentalismen fristen weltabgewandt und damit so leise ihr Dasein, so verhuscht, dass es nur die von ihnen zermürbt, die in dieser Parallelgesellschaft gefangen sind. Außenstehende bekommen davon gar nichts mit, Sektenbeauftragte aber registrieren das Anwachsen evangelikaler Bewegungen. Wer aussteigt, trägt tiefe Wunden davon. Seit ich einen Roman darüber geschrieben habe, melden sich solche Menschen bei mir: Manche berichten von langanhaltender Trauer, Schuldgefühlen, von Herzbeschwerden oder Hautausschlägen. Mir selbst versagten in den ersten Jahren immer mal wieder die Beine, ich war wie gelähmt.

In meinem Geist hat es gewütet, der Blick auf Göttliches wird immer getrübt bleiben von alten Schatten; Heilung davon wäre ein Wunder. Manche Leser und Leserinnen haben geschrieben, dass sie es hinter sich haben: fröhlich gottlos die einen; die anderen entspannt in modernen offenen Kirchen, von denen sie nicht mehr zu träumen brauchen.

Ich hatte als Kind nicht nur diese eine, diese enge Welt. Der Himmel schenkte mir, auf dass ich nicht völlig irre werde, das Leben eines Bauernmädchens mit weiten Feldern, wilden Freunden und zärtlichen Tieren und umgekehrt. Und es gab einen Glücksfall: Als ich die Gemeinde verließ und aus der Sicht meiner Eltern Sünderin wurde, fragten sie unseren alten Pastor um Rat. Er war es, der mich getauft hat: Der einzige Mann, den ich in meiner Kindheit erlebt habe, der öffentlich über seine Nazizeit sprach, der ehrlich bereute, der nichts beschönigte. Den fragten meine Eltern, was sie mit mir machen sollten. Der Mann sagte nur ein Wort: "Lieben?! "

Ich träume von einer Kirche, in der solche Menschen das Sagen haben.

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