Das Land der Hoffnungen und der Freiheit, der eingelösten und uneingelösten Träume
30.11.2010

Liebes Amerika, kurz hatte ich wohl die Stirn gerunzelt, als der Name George Bush fiel. Die jungen Frauen aus Albany reagierten deutlicher: Sie hoben ihre Hände, als richte man einen Revolver auf sie und schwörten: "Wir haben ihn nicht gewählt! " Diesen Satz habe ich oft gehört auf meiner Reise in diesem Frühjahr. Bald wird dieser Präsident aus dem Amt gehen - und dann? Ändert sich alles, wenn er geht? Ich war erstaunt, was für ein Ruck durch das Land geht, wie engagiert besonders junge Leute für Obama werben. Change, Wandel, ist dein Wort der Stunde. Wie weit wagst du dich vor, Amerika? Oder wechselst du bloß deinen Präsidenten?

Du bist das Synonym für Freiheit

Als Neunjährige hätte ich zu gern in die Bonanza-Familie eingeheiratet. Wenn ich dein Gesicht vor Augen habe, Amerika, dann ist es immer noch das vom gemütlichen Hoss - stell dir vor, ich wollte den Dicken, ausgerechnet ihn.

Ich verneige mich vor deiner Toleranz. Nehmen wir allein die Amish People, jene Christen, die sich so altmodisch kleiden, auf Elektrizität und moderne Technik weitgehend verzichten. Wir Europäer haben diese treuen Pazifisten totgeschlagen und davongejagt; in deiner Obhut, Amerika, aber leben und glauben sie seit dreihundert Jahren, und zwar in nicht weniger als 22 Staaten. Bei mir in Deutschland keifen und rangeln sich die Leut' um jede neue Moschee, dass bloß ihre Türmchen nicht so hoch werden wie die christlichen! Du bist das Synonym für Freiheit. Immer noch.

Nun aber enden deine Kriege nicht, das Öl geht aus, die Winde fegen über die Welt, der Meeresspiegel steigt, du und ich und unsere Nachkommen ersticken, verdursten, verbrennen oder ersaufen. Wir haben gemeinsam den Planeten ruiniert. Du bist ein ganzes Viertel schuld daran. Wir müssen reden.

Du machst seltsam fette Speisen

Seit du dich vor gut zweihundert Jahren als Staat selbstständig gemacht hast - aus europäischer Sicht vor recht kurzer Zeit -, hast du eine paradiesische Insel geschaffen, frei, reich, bildschön. Bei dir ist eine Oscarverleihung ein Rausch, bei mir der Filmpreis eine Sparkassenverlosung in Goslar. Ohne deine Musik wäre das Leben eine Wüste. Du hast wunderbare Schriftsteller, wir lesen sie. Du machst seltsam fette Speisen, die ganze Welt verdrückt das Zeug. Du produzierst gigantische Spielfilme und grauenhafte Serien, auch das flimmert überall. Wir sind alle verrückt nach dir. Nimm nur mal meine deutsche Eisenbahn. Sie benennt Züge, Fahrkartenschalter und Fahrkarten in deiner Sprache, weil sie dich todschick findet und sich selbst hölzern. Wie kurios, ist doch ausgerechnet dein Schienennetz das Allerletzte. Aber egal.

Wenn bei mir jemand auf der Straße ein Stoßgebet spricht, dann hat er höchstwahrscheinlich seinen Schlüsselbund in einen Kanaldeckel fallen lassen und hofft auf ein Wunder. Du betest ernsthaft, laut und ohne Scheu in der Öffentlichkeit. Ich sehe in New York einen Imbissstand mit Pretzels und Zeugs. Es ist Freitagnachmittag, kurz nach fünf. Neben dem Senf steht ein knarzendes Transistorradio, ein Muezzin ruft zum Gebet. Der Verkäufer kniet neben seinem Stand auf einem Stück Pappe und betet Richtung Mekka. Kein Passant rührt seine Waren an, eine halbe Stunde lang nicht. Einige Straßen weiter, neben der Public Library, fällt mir ein Mann auf, zwischen dem Grün geschützt an einem Tisch sitzend, eine zerfledderte Bibel in Händen. Er betet nicht still, sondern ringt laut mit Gott, drängt ihn, ihn zu erhören.

Traust du dich nicht?

Ich habe als Kind mit Freunden Cowboy und Indianer gespielt. Wir haben uns verkleidet, haben auf Lauer gelegen, geschossen und gemartert. Heute finde ich dieses Spiel töricht - der Überlebenskampf der Urbevölkerung gegen die amerikanischen Siedler, verniedlicht zum Hinterhofspiel. Mir fällt auf: Kanada und Australien haben sich kürzlich bei ihren Ureinwohnern entschuldigt, du noch nicht. Traust du dich nicht? Und die Verschleppten aus Afrika, wagst du das? Sicher: Was geht mich das an, ausgerechnet eine Deutsche? Die muss grad' reden! Drum frage ich ja.

Ich habe zwei Söhne, beide sind verliebt in dich! Moritz war wochenlang unterwegs und ist begeistert von dir. Lukas lebte ein Jahr lang bei dir und besuchte eine staatliche Highschool, grandios ausgestattet mit Schwimmbad, Theater, Basketballhalle mit Zuschauertribüne, Tennisplätzen (Mehrzahl). Ich bin voller Neid, unsere Schulen sind erbärmlich dagegen. Aber wahr ist auch: Allein in Chicago wurden im letzten Jahr 24 Kinder und Jugendliche auf ihrem Weg zur Schule von Schüssen getroffen und getötet, zumeist von Gleichaltrigen. Die Behörden sprechen von Erfolgen, denn im Jahr zuvor waren es noch 32 ermordete Schulkinder.

Change. Deine gesamte Infrastruktur rechnet mit ausreichenden Ölreserven. Du hast Straßen gebaut statt Schienennetze. Deine Häuser stehen sehr weit verstreut, so hast du mehr Platz und lebst billiger als in Zentren. Du wohnst in zugigen Schachteln. Du heizt und kühlst auf Teufel komm raus. Deine Häuser verlieren kräftig an Wert, und aus den Leasingverträgen für deine Benzinfresser kommst du nicht raus. Du steckst in einer Falle. Du kannst dir gar nicht leisten zu sparen.

Hättest du dich in der Energiepolitik so weit vorgewagt, wie es sonst deine Art ist, längst wären alle technisch machbaren Innovationen umgesetzt, jeder Sonnenstrahl bereits verkauft. Ich würde staunen über die modernsten solarthermischen Anlagen. Ganz Michigan würde nur ein paar Gramm CO2 ausstoßen. Amerikanische Autos, Aircondition und Waschmaschinen wären weltweit vorbildlich, große Leistung mit wenig Verbrauch. Deine Häuser wären beispielhaft isoliert. Du würdest den Handel mit Ländern sanktionieren, die dir nicht darin folgen, das Klima der Welt zu schonen. China und Indien importierten deine Solartechnik, du würdest damit mehr Gewinn machen als mit deinem Öl. Der Dollar wäre stark, die Sonne schiene für alle, in God we trust, du machst aus dessen Gaben bares Geld - das alles hätte ich dir wahrhaftig zugetraut! Zum ersten Mal in deiner Geschichte aber trottest du hinterher. Früher warst du ein Mythos, ein echter Weltstar, jeder wollte so sein wie du. Doch heute?

"Yes, we can! Yes, we can!"

"Yes, we can! Yes, we can! ", ruft Barack Obama. Der Mann tritt auf wie ein Moses, der Führer des Volkes Israel, aber wird er es wagen, dich durch die Wüste zu führen? Du bohrst bald in Naturschutzgebieten und unter der Arktis nach Öl. Wir sind alle auf Droge, setzen auf Atomenergie, laden auch diesen Müll ohne Rücksicht den künftigen Generationen auf.

CNN meldete kürzlich, mehr als die Hälfte der US-Amerikaner seien überzeugt davon, dass die Welt untergeht - Gott selbst habe die Katastrophe im Voraus festgelegt, wie in den apokalyptischen Texten der Bibel zu lesen sei. Was kümmert dich also dein eigener Anteil am Verderb? Mir hat die resignative Wirkung der Johannesoffenbarung noch nie gepasst. Martin Luther sagt es diplomatischer: "Mein Geist will sich in dies Buch nicht schicken."

"Yes, we can repair this world. Yes, we can." Amerika, du wirst im November jemanden wählen, der dich grandios aufmuntert. Kann er dich auch das Verzichten lehren? Und was ich auch immer wieder träume: Wirst du es wagen, dich bei den Vereinten Nationen einzufinden und mitzuarbeiten? Wirst du das Kyotoprotokoll zum Klimaschutz unterzeichnen und noch schärfere Ziele fordern von China, Indien und Europa, ohne die Welt mit Atommüll zu belasten? Du bist (noch) der Einzige, der die Macht dazu hat.

Gib mir doch wenigstens diese Gewissheiten: Du wirst die Todesstrafe abschaffen. Du wirst sofort ein Folterverbot erlassen. Und du wirst dem Terror den Boden entziehen, indem du wieder diplomatisch tätig wirst, Freundschaften schließt und Frieden schaffst. Du wirst deine Waffen einschließen, damit deine Kinder sicher sind. Yes you can. An diesem Tag werde ich etwas tun, was ich mein Lebtag noch nicht getan habe: Ich lege, sobald dein Lied erklingt und deine Fahne gehisst wird, meine rechte Hand an mein Herz. So etwas tun Deutsche eigentlich nicht mehr. Aber für dich würde ich es tun. 

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