Wir haben die Wahl: offener Dialog oder Rückzug hinter Gartenzäune?
30.11.2010

Europa ohne Religion? Das gibt es so wenig wie europäische Geschichte ohne Religionsgeschichte. Aber die Geschichte der Religionen verläuft in den Ländern Europas nicht in gleicher Weise. Das zeigten die Auseinandersetzungen vor den Europawahlen. Während Staaten wie Frankreich religiöse Symbole und Glaubensbekundungen möglichst weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt sehen möchten, sind die Deutschen in ihrer großen Mehrheit dafür, dass den Glaubensgemeinschaften ein fester Platz gesichert bleibt ­ und keineswegs nur im Privaten. Kreuze in Schulen und Gerichtsgebäuden? Daran stößt sich hierzulande kaum jemand.

Zum Problem wird die Frage erst durch das Auftreten nichtchristlicher Religionen, konkret durch die Präsenz des Islam. Im so genannten Kopftuchstreit brachen auf einmal Fronten auf, die in der europäischen Geschichte als überwunden galten. Quer durch die Parteien und Konfessionen kommen Irritationen auf, sobald auch Muslime verlangen, dass auch ihre Symbole respektiert werden. Die Mönchskutte galt und gilt als weniger anstößig als das Kopftuch.

"Wie viel andere Kultur kannst du ertragen?"

Damit wird deutlich, dass es in unserer Diskussion weniger um die alte Gretchenfrage geht "Wie hältst du's mit der Religion?" als vielmehr um die ebenfalls nicht neue Frage: "Wie viel andere Kultur kannst du ertragen?" Es geht nicht in erster Linie um den sattsam bekannten Konflikt zwischen Glauben und Zweifel, der im Gespräch zwischen Gretchen und Faust zum Ausdruck kommt, sondern um das drängender werdende Problem des Lebens mit kulturellen Unterschieden in Gesellschaften mit wachsenden Gleichheitsansprüchen.

Da kann es schon einmal passieren, dass man Zeuge eines Gesprächs wird, wie ich es auf einer Zugfahrt erlebte: Zwei "säkularisierte" junge Menschen stritten über das Tragen von Kopftüchern. Die eine, eine Iranerin, bestand auf dem Respekt vor ihrer Kleidungsgewohnheit und sprach zugleich kritisch über den Geltungsanspruch von Religionen in der modernen Welt. Der andere, ein Deutscher aus dem katholischen Oberbayern, lehnte islamische Schleier als unpassend in der deutschen Lebenswelt ab und betonte dabei doch, dass jeder glauben könne, was er wolle. Kulturelle Abgrenzung gepaart mit religiöser Gleichgültigkeit.

Vor diesem Hintergrund müssten wir also nicht fragen: Wie viel Religion brauchen wir, um in unserer Welt menschenwürdig zu leben?, sondern: Wie viel "fremde" Religiosität verträgt unsere Gesellschaft? Werden wir blind für die tieferen Nöte der Menschen in einer zunehmend von materiellen Interessen geleiteten Welt, wenn wir die offenkundigen Glaubensbedürfnisse nicht ernst genug nehmen? Oder überfordern wir uns, wenn wir uns gegenseitig zu viel religiöse Bekenntnisse und Glaubensdarstellungen zumuten?

Auf diese Fragen lauten die Antworten in den Ländern Europas unterschiedlich. Wo wenig Erfahrungen mit fremden Religionskulturen bestehen, fallen die Urteile in der Regel toleranter aus als in Gebieten mit hohen Ausländer- beziehungsweise Einwandererquoten. Und auch die Bedeutung der Religionszugehörigkeit für die eigene nationale Identität wie in Polen (im Unterschied etwa zur Tschechischen Republik) spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle.

Es gibt keine einfachen, vollständig überzeugenden Lösungen. Und doch darf es nicht sein, dass eine Europäische Union errichtet wird, ohne dass wir Anstrengungen zu größerer Gemeinsamkeit in zentralen Lebensfragen wie dem Umgang mit Glaubenswirklichkeiten unternehmen. Man kann nicht dauernd das Europa der Bürger und der Zivilgesellschaften beschwören und gleichzeitig einem religionspolitischen Provinzialismus frönen. Dass von Land zu Land die Einstellungen zur Kopftuchfrage wechseln, ist keine gute Perspektive.

Religiöse Toleranz dient der Integration der Ausländer am meisten

Was also tun, wenn Menschen an ihren Gewohnheiten und Traditionen hängen und doch zusammen leben und arbeiten müssen? Zunächst einmal muss die Einsicht wachsen, dass Glaubensinhalte sich nicht ohne kulturelle Ausdrucksformen artikulieren lassen. Und es muss darüber hinaus die Überzeugung zunehmen, dass es ohne Bereitschaft zur Traditionskritik kein zukunftsorientiertes Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Prägung gibt. Beides gehört zusammen.

Das heißt konkret, dass die Bürger der einzelnen Staaten in einen europäischen Dialog eintreten müssen, einen Dialog über die Grenzen und Möglichkeiten ihrer kulturellen Bewegungsspielräume. Franzosen sollten sich fragen, ob sie ihren geschichtlich gewachsenen Laizismus so weit treiben müssen, dass Glaubenszeichen vollständig aus dem Raum der öffentlichen Einrichtungen verbannt werden. Und Deutsche sollten ihre Angst vor der Welt der Säkularisierung nicht so weit treiben, dass sie die Bundesrepublik lieber in eine Landschaft religionspolitischer Schrebergärten verwandeln, als die Wertvorstellungen der Aufklärung im Umgang mit Andersgläubigen mit Leben zu erfüllen.

Die Forderung an uns alle lautet: Lasst uns weniger mit traditionsfixierten Argumentationsmustern als mit dem Maßstab der gesellschaftlichen Integrationschancen an die Religionsfrage herangehen. Fördert es die Eingliederung von Einwanderern nicht eher, wenn man ­ wie in Frankreich ­ nach dem Gleichheitsprinzip alle religiösen Symbole aus Schulen und Gerichten verbannt? Oder ist es umgekehrt dem Zusammenleben von Bürgern verschiedener kultureller Prägungen dienlicher, wenn man wie weithin in Deutschland den Respekt vor der Differenz über die religionspolitische Gleichbehandlung stellt? Die Debatte über ein mehr religionsfreundliches oder mehr laizistisches Modell muss den Gesichtspunkt einschließen, welcher Weg Menschen mehr ausgrenzt als integriert und welcher mehr zum gesellschaftlichen Frieden beiträgt.

Die Reformation begann mit einem Akt der Anerkennung weltlicher Ordnung

Christen brauchen keine Angst vor den Werten der Aufklärung zu haben, denn sie konnten im Laufe ihrer an Religionskriegen reichen Geschichte lernen, dass nicht die Entgegensetzung von Glauben und Unglauben, sondern die Spannung zwischen Glauben und Vernunft die Lebenswirklichkeit ausmacht. Sie konnten erkennen, dass ein vernünftiges Verhältnis zur säkularen Welt das Leben nicht bedroht, sondern erhält, und dass das Vertrauen zu einem persönlichen Gott dabei nicht Schaden zu nehmen braucht. Das Denken muss den Glauben nicht entwurzeln.

Evangelische Christen haben einen festen Boden unter den Füßen, wenn sie sich den Herausforderungen der modernen Welt mit Zuversicht stellen. Sie sollten sich daran erinnern, dass die Reformation mit einem Akt der Anerkennung der weltlichen Ordnung einhergegangen ist und dass Martin Luthers Rat zur Verweltlichung der geistlichen Herrschaft des Deutschen Ordens in Ostpreußen ein wichtiger Schritt war, die säkulare Welt zu bejahen. Die Welt ist in dieser Sicht nicht nur eine Bühne zur Verkündigung des Evangeliums, sondern auch und zuerst Gottes Schöpfung.

Deswegen führt Verbissenheit im Streit um den so genannten "Gottesbezug" in der Präambel der kommenden europäischen Verfassung nicht weiter. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger einzelner Länder durch einen solchen Bezug ausgegrenzt fühlen, dann gilt es darauf Rücksicht zu nehmen und eine Formulierung zu wählen, die das unstrittige christliche Erbe neben dem der Aufklärung erwähnt. Die innere Integration der Europäischen Union zu einer friedensfähigen, solidarischen Gemeinschaft von Bürgern ist schließlich ebenfalls ein Wert, für den Christen mit gutem Gewissen eintreten können.

Im Übrigen gewinnt auch das ökumenische Denken dabei, wenn Christen sich mit einem weltzugewandten Glauben am Aufbau Europas beteiligen. Wenn Protestanten und Katholiken sich nur auf der Ebene theologischer Argumente begegnen, werden sie immer wieder in Grabenkämpfe geraten und im Dialog mit außerchristlichen Religionen wie dem Islam schwach sein. Wenn sie aber die Wertvorstellungen der Aufklärung positiv aufnehmen und nicht jede Säkularisierung als laizistische Bedrohung ablehnen, werden sie neue Dimensionen des christlichen Zeugnisses in unserer gefährdeten Welt entdecken. Sie verlieren nichts in einem weltoffenen Dialog, in den sie nicht nur die Botschaft des Glaubens einbringen, sondern auch das, was untrennbar dazugehört: die Botschaft der Hoffnung und der Liebe.