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Man kann andere Menschen ausbilden, sagt der Philosoph Peter Bieri, bilden kann man sich nur selbst. Denn Bildung, meint der Mann, den viele nur unter seinem Pseudonym Pascal Mercier als Romanautoren kennen, habe vor allem mit Neugier zu tun. Etwas wissen wollen - ganz genau wissen - und bereit sein, das neu Erfahrene aufzunehmen, auch wenn es das bisherige Weltbild sprengt, darum geht's. Weil der Gebildete leichter als andere in der Lage sei, über den Tellerrand des eigenen Seins hinauszusehen, zu vergleichen und zu relativieren, so folgert Bieri, sei er zu mehr Toleranz in der Lage. Das stimmt wohl.
Gebildete werden bisweilen zu einer Heimsuchung für ihre Mitmenschen
Bieris zweiter Hinweis aber, dass Bildung Streben nach genauer Kenntnis von Dingen und Sachverhalten, nach exaktem Wissen sei, macht den in irgendeiner Disziplin überdurchschnittlich Gebildeten bisweilen zu einer Heimsuchung für seine Mitmenschen, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.
Ich, der ich als Journalist intensiven Umgang mit meiner Muttersprache pflege, kann zum Beispiel nicht an mich halten, wenn ich falsche Komparative und Superlative höre. Da sitzen wir neulich in trauter Runde zusammen, und Freund Christian erzählt von seinem Urlaub. "Wir waren übrigens die einzigsten Deutschen in unserem Hotel", erzählt er. "Die einzigen", falle ich ihm ins Wort. "Ich sagte ja, die einzigsten Deutschen", wiederholt er irritiert. "Die einzigen", unterbreche ich ihn erneut, "die einzigsten ist falsch. Einzig kann man nicht steigern."
Elender Besserwisser!
"Das ist halt Umgangssprache", verteidigt er sich. "Nein", widerspreche ich, "es ist einfach falsch." Kein Ausdruck der Dankbarkeit ziert Christians Gesicht. Was er sich verkneift, wenn ich sein Mienenspiel deute, könnte lauten: "Elender Besserwisser! " Er hat ja recht. Aber sein Sermon schmerzt mich zu sehr, als dass ich einfach schweigen könnte. Ich habe keine Wahl, ich muss ihn korrigieren.
Wir wechseln das Thema. Wir reden über die Fußball-EM, und Christian weiß, dass der Portugiese Cristiano Ronaldo der "hochbezahlteste" Kicker der Meisterschaft gewesen sei. "Höchst! ", belle ich zu seiner Verwirrung, "höchstbezahlt heißt es! " Jetzt ist der arme Kerl schon ziemlich genervt. Seine Frau Ursel springt ihm bei: "Genau so wie Christian haben die das im Fernsehen auch gesagt! " Aber das macht es doch nicht besser, sondern viel schlimmer.
Wissen tut weh. Zuerst dem Wissenden, dann dem Korrigierten. Eigentlich müsste Christian mich verstehen. Er ist Chorleiter, ein musikalisch gebildeter Mensch. Wenn jemand dauerhaft falsch singt, wie reagiert er? "Am meisten ärgert mich, wenn die Tempi geschleppt werden. Nimm nur 'Ein feste Burg ist unser Gott', ein kraftvolles, rhythmisch klares Stück, in dem eigentlich gar nicht falsch intonieren kann, wer den Text bewusst aufgenommen hat. Wenn die das dann so dehnen - 'Ein feeeste Buurg' klingt das für mich nach abbruchreifer Hütte. Und da geh' ich sofort dazwischen." Ich weiß es als ehemaliger Sänger in Christians Chor.
Es wurde dann doch noch ein recht harmonischer Abend, weil auch die anderen am Tisch berichteten, auf welchen Feldern der Bildung sie zum Leiden auserkoren seien. Marlene, eine in unseren Kreisen anerkannte Heimwerkerin, ärgert sich darüber, wie manche Leute mit dem Akkuschrauber umgehen. "Die haben keine Ahnung vom Drehmoment und machen die Kreuzschlitzköpfe so kaputt, dass man die Schrauben nie wieder rauskriegt." Die sprachbegabte Kerstin wird stinksauer, wenn sich ihre deutschen Freunde nicht wenigstens bemühen, auf Spanisch oder Italienisch richtig zu artikulieren, wenn sich "Cosi van Tudde" bei ihnen anhört wie der Name eines holländischen Fußballers. Und Manne, der Hobbykoch, wird wild, wenn er Leber serviert bekommt, die nach Schuhsohle schmeckt: "Garantiert vor dem Braten gesalzen
- das find ich das Unmöglichste überhaupt." Unmöglich kann man nicht mehr steigern, rufe ich. "War Spaß", grinst Manne, "wollte dich nur testen, alter Besserwisser! "