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Die Servicewüste Deutschland hat längst Eingang unter die geflügelten Worte gefunden. Auch ich habe an dieser Stelle schon reichlich von Erlebnissen der unfreundlichen Art in Märkten und Behörden erzählt. Nachdem ich mich in den vergangenen Monaten - zunächst eher zufällig, dann aber sehr intensiv - mit der Philosophie des Konstruktivismus beschäftigte, habe ich beschlossen, die Thematik mit veränderter Haltung anzugehen.
Die Konstruktivisten vertreten den Standpunkt, die Realität sei das Produkt unserer Wahrnehmung. Möchte man also die Wirklichkeit verändern, fängt man am besten bei sich selbst an. Deshalb habe ich mir vorgenommen, meine Gegenüber in Bäckereien und Schuhgeschäften, an Kinokassen und Bankschaltern zu belobigen und ihnen zu danken, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergibt. Macht jemand ein besonders mürrisches oder trauriges Gesicht, versuche ich es mit einem Scherz oder mit der Frage, ob ich helfen könne.
Nach vier Wochen Praxis kann ich sagen: Die Konstruktivisten haben recht. Meine Realität als Kunde, Klient, Patient oder Antragsteller hat sich auf erstaunliche Weise zum Besseren gewendet. Die Taxifahrerin, die mich vom Leipziger Hauptbahnhof zu einem Termin chauffierte, sah zunächst höchst verkniffen drein. "Wo soll's denn hingehen?", knurrte sie. Früher hatte ich mich in vergleichbaren Situationen hinter der Zeitung versteckt. "Ich muss Ihnen ein Kompliment machen", begann ich dieses Mal, was sie mit stirnrunzelnder Skepsis quittierte. "Ich fühle mich bei Ihnen sehr sicher. Sie fahren wunderbar."
Nach einer kurzen Schaltpause und einem prüfenden Blick in mein Gesicht, begann die Frau aus ihrem Leben als Berufskraftfahrerin in DDR-Zeiten zu berichten. Bis Rumänien und tief in die Sowjetunion sei sie unterwegs gewesen, auf unsicheren Straßen und bei ungünstigen Witterungsbedingungen. "Da lernt man das." Die Zeit verging im Flug. Am Ziel ließ sich meine Chauffeuse kaum davon abhalten, mir den Koffer zur Tür zu tragen. "Hammer uns aber nett unterhalten", grinste sie.
Dem ältlichen Hosenverkäufer bei den Herrenmoden erklärte ich, wie sehr es mich freute, mal von einem erfahrenen Mann bedient zu werden. Eine Jeans, die knapp passte, redete er mir aus: "Nee, die nehmen Sie nicht. Die steht Ihnen nicht, wenn ich das sagen darf." Wann hat mir ein Verkäufer je von etwas abgeraten? Dafür stieg er kurz vor Ladenschluss noch mal ins Lager und schleppte ein Teil herbei, das genau meinen Geschmack traf. Weil ich mich darüber so freute, kaufte ich gleich noch zwei Hemden dazu. Er bedankte sich: "Sie haben einen Verkäufer glücklich gemacht."
Das hast du nun von deiner peinlichen Schleimerei
Lob an der Kinokasse. Obwohl wir zehn Minuten zu spät auftauchten, hatte die Kartenverkäuferin die reservierten Tickets noch nicht freigegeben. "Jetzt atmen Sie erst mal durch", bremste sie unsere hektische Suche nach der Brieftasche, "soll doch ein entspannter Abend werden." Die Wüste lebt - überall blühende Landschaften.
Zugegeben: Es ist nicht immer so einfach. Der missvergnügte junge Mann in der Computerabteilung ließ es mich auch nach mehreren Demutsgesten deutlich spüren: Ich hasse es, Technikignoranten wie Ihnen ein DV-Kabel erklären zu müssen. Jede meiner Nachfragen, wo ich denn an meinem Notebook den richtigen Steckplatz finden würde, beantworte er eine Spur genervter als die vorangegangene. "Ich verstehe, dass ich als Techniktrottel Ihre Geduld sehr strapaziert habe. Ich danke Ihnen für Ihre Mühe", verabschiedete ich mich. "Okay", raunzte er und drehte mir den Rücken zu. "Papa, das hast du nun von deiner peinlichen Schleimerei", ließ mich mein Sohn wissen. Da drehte sich der Twen noch einmal zu uns um: "Schleimerei? Dein Vater ist höflich. Das ist keine Schleimerei. Aber ich bin heute mies drauf. Habe die ganze Nacht ein neues Onlinegame gespielt. Sorry. Schönen Tag noch! " Das war der Moment, in dem ich ziemlich stolz auf meine Demut war. Ich sagte nur: "Tja, mein Sohn! "