Sie meinen es nur gut, aber man ärgert sich trotzdem.
15.11.2010

"Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren." So steht es in der Bibel, im Alten Testament (3. Mose 19,32), dort, wo es um das alltägliche Leben und ein gepflegtes Miteinander geht. Also Ende der Debatte? Nix mit Kritik an den alten Eltern, sondern beständige Unterordnung samt heruntergewürgten Sätzen, die einem dann schwer auf dem Gemüt lasten? Nein, so simpel ist es nicht.

"Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren."

Natürlich verdienen es Eltern, die in die Jahre gekommen sind, dass man respektvoll mit ihnen umgeht. Sie haben ihren Kindern das Leben geschenkt, sie behütet und unterstützt. Schwiegersöhne und -töchter sind von ihnen aufgenommen, Enkel willkommen geheißen worden. Das ist großen Dank wert, weil es nicht selbstverständlich ist. Eigenheiten, die sich mit dem Alter einstellen, kann man milde wegstecken. Man möchte ja selber später auch einmal auf Geduld mit den eigenen Schwächen hoffen dürfen.

Man lässt also besser unkommentiert, dass der Vater das Outfit, in dem man ihn besucht, nicht oberschick findet oder meint, man hätte sich gründlicher rasieren sollen. Die Mutter hat zu viel eingekauft; der Tisch biegt sich, weil sie ihre Lieben füttern möchte wie eine Adlermama ihre Jungen. Die Eltern sind nicht begeistert, weil man eine Urlaubsreise nach Asien plant, statt, wie sie es gut fänden, in der Nähe zu bleiben. Was bringt es, heftig darüber zu diskutieren? Das sind, wenn sie nicht regelmäßig passieren, Kleinigkeiten, die man nonchalant wegstecken kann.

Erfahrungsgemäß ist solche Souveränität abhängig vom eigenen Alter. Je jünger ein Mensch selbst ist, desto deutlicher muss er machen, dass er sein Leben in eigener Regie zu gestalten denkt. Die Kindheit ist noch zu nahe, als dass man Versuchen, "das Kind" zu lenken, nicht widerstehen müsste. In späteren Jahren, selbst längst erwachsen und mit der nötigen Gelassenheit ausgestattet, kann man manches einfach nur anhören.

Das gilt gerade in Zeiten schwerer Krankheit. Da braucht es eine Weite des Herzens, mit der sich manches ertragen lässt: Dann läuft man halt zwei- oder dreimal, weil der Mutter wieder etwas Neues eingefallen ist, das sie unbedingt braucht. Oder man telefoniert abends noch einmal mit den Eltern, obwohl es nichts Neues zu erzählen gibt, weil am Morgen schon alles besprochen wurde. Was soll's ­ der Seele tut Großmut ab und zu ganz gut. Man muss nicht beständig die eigenen Bedürfnisse gegen die der Eltern hochhalten und krampfhaft darauf schauen, sich als selbständig zu erweisen. Wer sich jedoch dabei ertappt, dass er oder sie sich bei jeder Kleinigkeit abzugrenzen versucht, sollte überlegen, ob etwas grundsätzlich in der Eltern-Kind-Beziehung nicht stimmt. Das muss dann ­ und zwar intensiv ­ bearbeitet werden.

"Die sind halt so, die ändern sich nicht mehr"

Vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten zu ehren ist im Sinne eines wahrhaft menschlichen Miteinanders ganz richtig. Aber der Begriff des Ehrens verdient einen zweiten Blick. "Die sind halt so, die ändern sich nicht mehr", sagt mancher über seine Eltern und winkt ab. Sollen die doch sagen, was sie wollen, es interessiert eh keinen. Mit einer solchen Haltung aber nimmt man Vater und Mutter nicht mehr ernst. Sie werden behandelt, als wären sie tatsächlich unwürdige Greise und Greisinnen, deren Geschwätz keinerlei Bedeutung hat. Das kommt einer kommunikativen Entmündigung gleich. Zu schweigen oder Äußerungen angeödet abzutun ist weder erwachsen noch respektvoll. Wenn alte Eltern für sich in Anspruch nehmen, etwas zum Leben ihrer Kinder zu sagen, müssen sie mit einer Antwort rechnen dürfen. Einer Antwort, die klar, vernünftig und selbstbewusst ist ­ und die genau dadurch die Meinung der Eltern achtet.

Erwachsene Kinder trauen sich heute mehr als früher, ihren Eltern zu widersprechen und sogar an deren Lebensweise herumzukritisieren. Sie finden etwa, dass sie endlich eine Putzfrau einstellen sollen, weil sie des Haushalts nicht mehr Herr werden. Warum nicht einen Lieferservice fürs Essen bestellen, wenn einkaufen und kochen schwer fallen? Und sollten die Großeltern nicht die Enkel hüten, statt sich in Spaniens Sonne zu räkeln?

Kritische Fragen müssen nicht bedeuten, dass Kinder ihren Eltern zu wenig Respekt zollen. Der Respekt zeigt sich gerade darin, dass man Mutter und Vater "für voll" nimmt, ihnen sachliche Anfragen nicht vorenthält, sondern zum Beispiel behutsam mit dafür sorgt, dass sie ihren Alltag bewältigen können. Nur ­ vorschreiben kann man ihnen ihre Lebensweise und ihre Entscheidungen nicht. Eltern sind keine Erfüllungsgehilfen, die parat zu stehen haben, wenn ihre "Großen" etwas von ihnen wollen ­ sei es Zeit oder Geld.

"Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren." Genau. Im selben biblischen Kapitel steht der berühmte Satz: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Von Unterwerfung auf der einen oder anderen Seite kann nicht die Rede sein. Eltern haben wie ihre erwachsenen Kinder ein Recht darauf, sie selbst zu sein und ihr Leben nach Kräften und eigenen Vorstellungen zu genießen.

 

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