- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
"Ihr erster tödlicher Unfall?", fragte Hauptkommissar Senft ganz einfühlsam und schenkte mir einen Obstler ein. Ja, der erste, über den ich in meinem Journalistenleben zu berichten hatte. Ein früher Dezemberabend, eine abschüssige Bundesstraße im Nordschwarzwald, eine lang gezogene Kurve. Einer hatte überholt, war nicht mehr nach rechts gekommen, sondern frontal in einen Laster gerast. Das Fahrzeug brannte sofort lichterloh. Der Unfallfahrer verbrannte, der LKW-Lenker kam mit dem Schrecken davon. "Schlimm?", wollte Senft wissen.
Am meisten schockierten die Gespräche der Polizisten
Schrecklich! Und am meisten schockierten mich nicht die Bilder, die Szenerie das ausgebrannte, von der Feuerwehr gelöschte, aber noch rauchende Auto mit der stark geschrumpften, verkohlten Leiche auf dem Fahrersitz , sondern die Gespräche der Polizisten. "Es riecht nach Brathähnchen", witzelte einer und sog den Duft verbrannten Fleisches hörbar tief ein. "Alles harmlos", gab sein Kollege zum Besten, "weißte noch, der dicke Wirt, der nachts die Bedienung heimgefahren hatte. Die sind doch oben bei Schömberg in den Wald gerauscht mit dem kleinen Auto." Und es folgte die Schilderung, wie die Eingeweide des Fahrers über das Armaturenbrett quollen.
Mir wurde schlecht, was die Beamten leicht erkennen konnten. Und das forderte sie erst recht heraus, die schrecklichsten Geschichten aus dem Leben eines Verkehrspolizisten in einem eklig-humorigen Plauderton vorzutragen. Dem jungen Kerlchen werden wir ein bisschen zeigen, welch abgezockte Profis wir sind. Nachdem ich meine Fotos gemacht und die nötigen Informationen eingesammelt hatte, machte ich, dass ich wegkam.
"Nehmen Sie's den Kollegen nicht übel. Das ist ein harter Job."
Der sanfte Hauptkommissar sagte nur: "Nehmen Sie's den Kollegen nicht übel. Das ist ein harter Job." Das war im Dezember 1976. Ein paar Monate später hieß die nächste Station meiner journalistischen Ausbildung "Politikressort". Am 5. September 1977 entführte die Rote-Armee-Fraktion (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und erschoss seine Begleiter. Am 18. Oktober schließlich stürmten deutsche GSG9-Kräfte im somalischen Mogadischu die Passagiermaschine Landshut und befreiten 86 Geiseln. In Stammheim brachten sich daraufhin die Terroristen Baader, Ensslin und Raspe um, nachdem sich ihr Plan zerschlagen hatte, gegen die Geiseln ausgetauscht zu werden. Und am 19. Oktober wurde der ermordete Schleyer gefunden der Racheakt der Terroristen. Sechs Wochen, die als "deutscher Herbst" unser Land verändert haben. Auch mich.
Der Jungjournalist Brummer war Teil eines Gefüges, das die Ereignisse bis in die Nächte diskutierte, als Menschen, die jeden Tag für ihr Publikum ein Blatt zu machen hatten, mit Nachrichten, Hintergrundberichten, Porträts, Interviews und Kommentaren. Während wir anfangs mit heißen Köpfen debattierten, veränderte sich in der Zeit der Gefangenschaft Schleyers unser Gesprächston. Und eines Tages kursierte der Witz: Jetzt können die RAF-Leute bald heiraten. Einen Schleyer haben sie schon, fehlt nur noch der Strauß. Auch ich habe ihn weitergereicht. Doch dann beschlich mich eine seltsame Ahnung. Den Ton, in dem wir jetzt über die Ereignisse sprachen, den kannte ich. Es war derselbe zynische Umgang mit dem Unabänderlichen, wie ihn die Verkehrspolizisten praktizierten.
"Professioneller Zynismus ist ein notwendiger Schutz"
Ich habe darüber neulich mit Martin geredet, von Beruf Arzt, als die ganzen Ereignisse in der Diskussion über die letztlich nicht erfolgte Begnadigung Christian Klars für mich plötzlich wieder höchst gegenwärtig wurden. "Sonnenklar", meinte Martin, "diese Art professioneller Zynismus ist ein notwendiger Schutz, er schafft Distanz und macht Handeln erst möglich. Was meinst Du, wie Mediziner untereinander über 'Fälle' reden? Oder Hauptschullehrer in Problemschulen? Wenn sie das nicht könnten, sie würden vor lauter Tränen ihre Arbeit nicht mehr sehen. Problematisch wird es nur, wenn der Zynismus zur Haltung wird, ja wenn den Profis das Bewusstsein dafür verloren geht, dass sie zynisch reden, dann fangen sie auch bald an, zynisch zu handeln. Als Mediziner sage ich: Alles eine Frage der Dosis. Was hilft, wird zum Gift, wenn man zu häufig und zu viel davon nimmt." Zynismus wird dann zur Droge, um jegliches Gefühl zu vermeiden.