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Manche Lebensweisheiten werden, scheinbar unausrottbar, von Generation zu Generation weitergegeben mit dem Pathos der tiefen Einsicht in die Zusammenhänge dieser Welt. Man erkennt ihre Absicht schnell und ist darob verstimmt: Sie sollen nämlich heranwachsende Menschen den (groß)elterlichen Maximen unterwerfen und sie damit auf Linie bringen. "Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst..." ist eine beliebte Sentenz gegenüber Heranwachsenden, die immer mit dem Hinweis darauf endet, was man zu tun oder zu lassen hat. Wer das oft genug hört, freut sich ungemein auf den Tag, an dem man es sich mit den eigenen Extremitäten woanders gemütlich machen kann.
Im Handarbeitsunterricht monierten die Lehrerinnen regelmäßig meine Unlust, kurze, bunte Garne zu vernähen. Ich mühte mich mit einem langen Faden und erntete dafür den Kommentar: "Langes Fädchen, faules Mädchen." Sie übersahen dabei, dass meine Handarbeiten zwar keine begabte Näherin zeigten, aber überaus ordentlich waren auch da, wo man nicht hinsah. "Außen hui, innen pfui" gab es bei mir eben nicht! Bedauerlich nur, dass es mir nicht einfiel, den Pädagoginnen diesen Spruch entgegenzuschleudern. Sie hätten ihn verdient gehabt. Aber "Rache ist süß" oder wird am besten "kalt genossen", ein Gaumenschmaus also oder wie in meinem Fall ein spätes Werk der Zunge.
Apropos: "Dir gehört die Zunge geschabt", sagte die Oma eines meiner Freunde, wenn er ihr zu vorlaut schien. Ein Satz, der in die Kategorie kindliche Folter gehört und damit abgeschafft wie manch andere Worte der Altvorderen, die das Gemüt der Kleinen quälen. Nicht einmal Schriftsteller und Autoren, deren Ergüsse ungeprüft in Schulbüchern abgedruckt werden, sind davor gefeit. Jahrelang wand ich mich innerlich beim Anblick des schönsten Morgenlichtes, weil wir in der Volksschule aus Wilhelm Hauffs "Reiters Morgengesang" auswendig lernen mussten: "Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod?" Da hilft fast nur noch Psychoanalyse, um der aufgehenden Sonne wieder lustvoll entgegenzublicken.
Angst verursacht auch die Drohung, "den Vogel, der am Morgen singt, frisst am Abend die Katz", die populäre Version von Friedrich von Hagedorns Fabel "Der Zeisig", in der es heißt: "Man muss den schönsten Tag nicht vor dem Abend loben." Wer außerhalb schöngeistiger Literatur so redet, will seine Lieben vermeintlich vor Schaden bewahren. In Wahrheit versaut er ihnen die Stimmung. Warum nicht sofort glücklich sein, selbst wenn die Laune später umschlägt? Wer in aller Herrgottsfrühe besorgt über den Ausgang der vor ihm liegenden 24 Stunden sich lieber nicht freut, verpasst wunderbare Zeiten seines Lebens, die nie zurückkehren.
Unangenehm hemmend wirkt auch: "Freu dich nicht zu sehr, dann kannst du nicht enttäuscht werden" und das entschleunigende "Abwarten und Tee trinken". Letzteres mag berechtigt sein, wenn die Wut einen hinwegzureißen droht. Da wartet man tatsächlich besser ab, bevor man Dinge tut, die nicht ungeschehen gemacht werden können. Eine Mutter ermunterte ihren Sohn vor Schulaufgaben stets mit der Parole: "Ruhig Blut und warme Unterhosen!", was ihn vor Panik bewahrte. Ein Hoch auf alle Mütter, die auf den Spruch vom Indianer verzichten, der keinen Schmerz kennt, und die ihre Söhne vor dem törichten "Ein Junge weint nicht" bewahren. Ein richtiger Mann muss gelernt haben, seine Gefühle zu zeigen auch die traurigen.
"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Von wegen. Mancher Hans lernt später blitzartig, was ihm verfrüht aufgezwungen wurde. Das miese "Kein Tadel ist das größte Lob" erstickt jedes Selbstwertgefühl im Keim und verhindert, dass Kleine und Große im biblischen Sinn "mit ihren Pfunden wuchern" und ihr "Licht nicht unter den Scheffel stellen". "Selbstlob stinkt"? Wenn einen kein anderer lobt, kann man es ruhig selber tun. Akademikereltern, die ihren Kindern das lateinische "Quod licet Iovi, non licet bovi" vorhalten was sich für Gott Jupiter ziemt, sprich den Papa, kommt dir kleinem Rindviech nicht zu , brauchen sich nicht wundern, wenn die lieben Kleinen frech mit "Bobidibobi bobidibobi" antworten.
Ernüchternd wirkt der Hinweis auf den Spatz in der Hand, der besser sei als die Taube auf dem Dach. Aber er schützt einen davor, zu hochfliegende Pläne zu verfolgen. In die Richtung "hart wie Kruppstahl" gehen indes die Forderungen: "Man muss nur wollen", "Augen zu und durch" oder "Nichts ist so schlecht, als dass es nicht für was gut wäre". Hier stimmt der erste Eindruck: Die Sätze sind Unfug, weil sie alles für machbar halten und Trauer wegfaseln, statt sie zu verarbeiten. Harmlos moralisch lehrt mit "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert" auf das Kleingeld zu achten. Dafür habe ich, bescheiden aufgewachsen, viel Verständnis.
Wer beim Essen ein Tischbein zwischen die Füße bekommt, kriegt eine böse Schwiegermutter? Ach was: Ich habe trotzdem die beste der Welt. Der Schlaf vor Mitternacht stärkt mehr als der danach? Mag sein, aber manchmal muss man einen draufmachen. Im Sinn von Goethes "Getretner Quark wird breit, nicht stark" sollte manchen Weisheiten der Garaus gemacht werden, aber nicht denen, die ganz im biblischen Sinne Weisheit lehren. Man muss halt alles auf Herz und Nieren prüfen. "Wer andern eine Grube gräbt", merkt oft, dass er tatsächlich selbst hineingefallen ist. "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu" ist deshalb eine wahrhaft goldene Regel.
"Dir gehört die Zunge geschabt" ein Satz, der in die Kategorie kindliche Folter gehört
Das meinen Leserinnen und Leser
Manchmal schlägt es einem von selbst ernannten "Realisten" entgegen: "Träume sind doch nur Schäume." Und doch kann und will ich nicht auf die Schäume meines Lebens verzichten, die mich tragen, wie es nur Schaum kann weich, glitzernd, sanft, duftend und klar. Und letztlich sind es doch jene Schäume, die unsere Welt noch verändern können.
Anna Schnackenberg,
19 Jahre, Wilstedt
"Wenn es einen Glauben gibt, der Berge versetzen kann, so ist es der Glaube an die eigene
Kraft" (Marie von Ebner-Eschenbach). Es ist wichtig, alte Glaubenssätze über Bord zu werfen, die beschränken wollen, aber nur die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten stören. Viel davon habe ich schon hinter mir gelassen und lebe besser dadurch.
Reinhard Koch, 40 Jahre,
Schmitten
Eine Klassenkameradin schrieb mir ins Album: "Schmerzt Dich einst in tiefer Brust das harte Wort: Du musst! So macht Dich eins nur wieder still: Das kleine Wort: Ich will!" "So ein Schmarrn!", dachte ich. Später inzwischen allein erziehende Mutter mit drei Kindern und Beruf fiel mir dieser Spruch ein. Mit ihm habe ich überlebt. Denn überleben wollte ich: für mich und meine Kinder.
Gabriele Faust, 54 Jahre,
Regensburg
"Jugend kennt keine Tugend!", hält Theodor Fontane, wie alle Sprichwörter, für falsch. Seitdem gebe ich wenig auf den "Volksmund". Er dient oft der Gefügigmachung.
Sebastian DéGardin,
32 Jahre, Hamburg
Weisheiten dürfen keine Appelle sein. Sonst blockieren sie uns. "Man muss nur wollen" ist eine solche falsch verstandene Weisheit. "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus" ist dagegen ein segensreicher Spruch, weil er uns sagt, dass auch wir für unser Leben mit verantwortlich sind. Für mich ein beruhigender Gedanke.
H.-Michael Manitz,
66 Jahre, Berlin
Ich schicke Ihnen lieber selbst gemachte Sprüche. Zum Beispiel: "Wie erschräke mancher, gelänge es ihm, zu sich zu kommen." Und: "Stranden ist unter Umständen die einzige Überlebensmöglichkeit."
Hans Wittek, 68 Jahre,
Leutkirch
Ich werde offene Augen und Ohren für Spruchweisheiten haben, solange ich lebe. Im Ort Le Hohwald in den Vogesen fand ich dreisprachig in einen Brunnen gemeißelt das Wort einer jüdischen Ärztin: "Denke und handle getreu den klaren Quellen deines Wesens."
Annemarie Brettar,
55 Jahre, Kleinblittersdorf
Bei meiner Arbeit in einem deutschsprachigen Altersheim mache ich folgende Beobachtung: Wenn ich Sprüche zitiere, erinnern sich die Leute hocherfreut an vergangene Erlebnisse. Oft ergeben sich daraus Gespräche, die die Leute aufmuntern und erheitern.
Bärbel Beer, 55 Jahre,
Melbourne, Australien
"Reden ist Silber, Schweigen ist Gold", musste ich mir als Quasselstrippe oft anhören. Es hat Wirkung gezeigt. Denn in unserer Bla-Bla-Gesellschaft favorisiere ich heute den Spruch: "Selig, wer nichts zu sagen hat und trotzdem schweigt." Dies müssen sich meine Mitmenschen wiederum oft anhören, und so schließt sich der Kreis.
Margret Geske, 58 Jahre,
Starnberg
Manche Lebensweisheiten werden, scheinbar unausrottbar, von Generation zu Generation weitergegeben mit dem Pathos der tiefen Einsicht in die Zusammenhänge dieser Welt. Man erkennt ihre Absicht schnell und ist darob verstimmt: Sie sollen nämlich heranwachsende Menschen den (groß)elterlichen Maximen unterwerfen und sie damit auf Linie bringen. "Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst..." ist eine beliebte Sentenz gegenüber Heranwachsenden, die immer mit dem Hinweis darauf endet, was man zu tun oder zu lassen hat. Wer das oft genug hört, freut sich ungemein auf den Tag, an dem man es sich mit den eigenen Extremitäten woanders gemütlich machen kann.
Im Handarbeitsunterricht monierten die Lehrerinnen regelmäßig meine Unlust, kurze, bunte Garne zu vernähen. Ich mühte mich mit einem langen Faden und erntete dafür den Kommentar: "Langes Fädchen, faules Mädchen." Sie übersahen dabei, dass meine Handarbeiten zwar keine begabte Näherin zeigten, aber überaus ordentlich waren auch da, wo man nicht hinsah. "Außen hui, innen pfui" gab es bei mir eben nicht! Bedauerlich nur, dass es mir nicht einfiel, den Pädagoginnen diesen Spruch entgegenzuschleudern. Sie hätten ihn verdient gehabt. Aber "Rache ist süß" oder wird am besten "kalt genossen", ein Gaumenschmaus also oder wie in meinem Fall ein spätes Werk der Zunge.
Apropos: "Dir gehört die Zunge geschabt", sagte die Oma eines meiner Freunde, wenn er ihr zu vorlaut schien. Ein Satz, der in die Kategorie kindliche Folter gehört und damit abgeschafft wie manch andere Worte der Altvorderen, die das Gemüt der Kleinen quälen. Nicht einmal Schriftsteller und Autoren, deren Ergüsse ungeprüft in Schulbüchern abgedruckt werden, sind davor gefeit. Jahrelang wand ich mich innerlich beim Anblick des schönsten Morgenlichtes, weil wir in der Volksschule aus Wilhelm Hauffs "Reiters Morgengesang" auswendig lernen mussten: "Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod?" Da hilft fast nur noch Psychoanalyse, um der aufgehenden Sonne wieder lustvoll entgegenzublicken.
Angst verursacht auch die Drohung, "den Vogel, der am Morgen singt, frisst am Abend die Katz", die populäre Version von Friedrich von Hagedorns Fabel "Der Zeisig", in der es heißt: "Man muss den schönsten Tag nicht vor dem Abend loben." Wer außerhalb schöngeistiger Literatur so redet, will seine Lieben vermeintlich vor Schaden bewahren. In Wahrheit versaut er ihnen die Stimmung. Warum nicht sofort glücklich sein, selbst wenn die Laune später umschlägt? Wer in aller Herrgottsfrühe besorgt über den Ausgang der vor ihm liegenden 24 Stunden sich lieber nicht freut, verpasst wunderbare Zeiten seines Lebens, die nie zurückkehren.
Unangenehm hemmend wirkt auch: "Freu dich nicht zu sehr, dann kannst du nicht enttäuscht werden" und das entschleunigende "Abwarten und Tee trinken". Letzteres mag berechtigt sein, wenn die Wut einen hinwegzureißen droht. Da wartet man tatsächlich besser ab, bevor man Dinge tut, die nicht ungeschehen gemacht werden können. Eine Mutter ermunterte ihren Sohn vor Schulaufgaben stets mit der Parole: "Ruhig Blut und warme Unterhosen!", was ihn vor Panik bewahrte. Ein Hoch auf alle Mütter, die auf den Spruch vom Indianer verzichten, der keinen Schmerz kennt, und die ihre Söhne vor dem törichten "Ein Junge weint nicht" bewahren. Ein richtiger Mann muss gelernt haben, seine Gefühle zu zeigen auch die traurigen.
"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Von wegen. Mancher Hans lernt später blitzartig, was ihm verfrüht aufgezwungen wurde. Das miese "Kein Tadel ist das größte Lob" erstickt jedes Selbstwertgefühl im Keim und verhindert, dass Kleine und Große im biblischen Sinn "mit ihren Pfunden wuchern" und ihr "Licht nicht unter den Scheffel stellen". "Selbstlob stinkt"? Wenn einen kein anderer lobt, kann man es ruhig selber tun. Akademikereltern, die ihren Kindern das lateinische "Quod licet Iovi, non licet bovi" vorhalten was sich für Gott Jupiter ziemt, sprich den Papa, kommt dir kleinem Rindviech nicht zu , brauchen sich nicht wundern, wenn die lieben Kleinen frech mit "Bobidibobi bobidibobi" antworten.
Ernüchternd wirkt der Hinweis auf den Spatz in der Hand, der besser sei als die Taube auf dem Dach. Aber er schützt einen davor, zu hochfliegende Pläne zu verfolgen. In die Richtung "hart wie Kruppstahl" gehen indes die Forderungen: "Man muss nur wollen", "Augen zu und durch" oder "Nichts ist so schlecht, als dass es nicht für was gut wäre". Hier stimmt der erste Eindruck: Die Sätze sind Unfug, weil sie alles für machbar halten und Trauer wegfaseln, statt sie zu verarbeiten. Harmlos moralisch lehrt mit "Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert" auf das Kleingeld zu achten. Dafür habe ich, bescheiden aufgewachsen, viel Verständnis.
Wer beim Essen ein Tischbein zwischen die Füße bekommt, kriegt eine böse Schwiegermutter? Ach was: Ich habe trotzdem die beste der Welt. Der Schlaf vor Mitternacht stärkt mehr als der danach? Mag sein, aber manchmal muss man einen draufmachen. Im Sinn von Goethes "Getretner Quark wird breit, nicht stark" sollte manchen Weisheiten der Garaus gemacht werden, aber nicht denen, die ganz im biblischen Sinne Weisheit lehren. Man muss halt alles auf Herz und Nieren prüfen. "Wer andern eine Grube gräbt", merkt oft, dass er tatsächlich selbst hineingefallen ist. "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu" ist deshalb eine wahrhaft goldene Regel.
Im Vertrauen
Jeden Monat laden wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, ein, uns Ihre Erfahrungen zu einem vorgegebenen Thema mitzuteilen. Schildern Sie Erlebnisse und Begegnungen, lassen Sie uns an Ihren Beobachtungen teilhaben!
Das Thema im Juli: Wie verabschieden wir uns richtig? Und tschüss! Schon halb in der Tür, reicht uns oft ein kurzer Ruf in den Flur, um schnell weiterzukommen. Aber reicht das wirklich? Oder verdienen Partner und Kinder einen besseren Abschied, vielleicht mit guten Wünschen?
Zu diesem Thema schreiben Sie uns bitte, mit Angabe Ihres Alters und Wohnorts, bis zum 31. Mai
chrismon
Stichwort: Im Vertrauen Postfach 203230, 20222 Hamburg E-Mail: im-vertrauen@chrismon.de