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Wer Gegenwart begreifen will, muss auf die Vergangenheit schauen. Das machen zwei große deutsche Romane dieses Herbstes deutlich. Die in Buenos Aires geborene María Cecilia Barbetta erinnert in "Nachtleuchten" an die Geschichte Argentiniens. Im Jahr 1974 in der Provinz Ballester spielend, gibt der Roman eine Liebeserklärung an die Menschen dieser Region ab. Mit überschäumender Erzähllust führt Barbetta in ein katholisches Internat, wo die "Theologie der Befreiung" aufflammt, in eine Kfz-Werkstatt mit dem schönen Namen "Autopia", wo Rückkehr und Tod Juan Peróns aufs Heftigste diskutiert werden, und am Ende in eigenwillige Spiritistenkreise. So entsteht seismografisch ein Bild Argentiniens, am Vorabend der Machtübernahme durch die Militärjunta 1976.
Inger-Maria Mahlke hingegen reist in ihrem Roman auf die Kanarischen Inseln, nach Teneriffa, wo sie selbst längere Zeit gelebt hat. In umgekehrter Chronologie präsentiert sie einen breit angelegten Familienroman, der 2015 einsetzt und bis 1919 zurückreicht. Was es mit der beliebten Blumeninsel auf sich hat, mit den beklemmenden "Visionen für einen neuen Tourismus", mit General Franco, der sich 1936 von dort aus nach Madrid aufmachte, um das Regiment zu übernehmen, und mit den Nachwirkungen der spanischen Kolonialpolitik in Nordafrika – das alles fügt die Autorin facettenreichzusammen. Ein Lehrstück über die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Rainer Moritz
María Cecilia Barbetta:Nachtleuchten. S. Fischer. 528 Seiten, 24 Euro
Inger Maria Mahlke: Archipel. Rowohlt. 432 Seiten. 20 Euro