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Zwei Behauptungen über den christlichen Glauben und das Leben von Christen halten sich im Osten Deutschlands besonders beharrlich. Die erste: "Naturwissenschaft und Glauben sind unvereinbar." Mit dieser These wurde das materialistische Weltbild der DDR gegen alle religiösen Anwandlungen bis heute aufs Wirksamste imprägniert.
Christiane Thiel
Verheerender noch ist der zweite Satz, der mich mein ganzes Leben als Ostdeutsche begleitet: "Ich kenne viele Menschen, die sind keine Christen, doch viel bessere Menschen als alle Christen, die mir begegnet sind." Dieser Satz ist – leider – oft wahr, und angesichts des Glaubensverlustes vieler im Osten besonders schrecklich. Ich hatte gehofft, dass das Ende der DDR eine Rückkehr des Christentums möglich macht. Es kam anders, vernichtender. Die erste These – das wissen jedenfalls die Klugen unter denen, die Gott ablehnen – ist nicht so stabil, wie sie scheint. Aber die zweite, die Feststellung, dass Christen nicht durch besonders gutes Handeln auffallen, lässt sich oft nicht erschüttern. Es finden sich dafür immer wieder Belege.
Dabei geht es nicht ums "Benehmen", sondern es geht ums Ganze: Machen sich Christinnen und Christen für Gerechtigkeit stark? Diese Frage hat besonders im Osten eine große Bedeutung. Hier war die Kirche wirklich lebendig, als sie auf der Seite der Schwachen stand, als sie ein Ort für Fragen und Aufbegehren war und als sie sich für Proteste auf die Straße traute, statt sich hinter ihren Mauern im Recht zu wähnen. Darum geht es auch im Brief, der Jakobus zugeschrieben wurde. Er könnte aber aus der Feder mehrerer Menschen stammen. Von Menschen, die im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in Syrien lebten und versuchten, ihr Leben nach der Thora, dem jüdischen Gesetz der fünf Bücher Mose, und nach dem Glauben an den Auferstandenen auszurichten.
Gott zu vertrauen muss sichtbare Folgen haben
Sie kämpften für Gottes Gerechtigkeit, die sich ihrer Meinung nach zuerst am Umgang mit den Armen misst. Ihre Worte verhallten ungehört. Der Reformator Martin Luther hat den Jakobusbrief als "stroherne Epistel" bezeichnet und in die Ecke der fast entbehrlichen Worte gestellt. Elsa Tamez, eine Befreiungstheologin aus Costa Rica, sagt: Durch den Jakobusbrief lernen wir, um ein gutes Leben und einen sinnvollen Glauben zu ringen, der sich im Alltag als wirkungsvoll erweist. Gott zu vertrauen ist nicht etwas Innerliches, sondern es muss sichtbare Folgen haben, zuallererst für die Armen.
Der Jakobusbrief öffnet uns die Augen auch dafür, wie bereitwillig wir uns von Autoritäten blenden lassen. In ihm ist ausdrücklich von der Thora Gottes die Rede. Sie gilt als Gesetz, sie verhilft zu einem Leben der Gerechtigkeit. Aber auch Elsa Tamez bleibt ungehört.
Wir Christinnen und Christen brauchen Gottes Lebensregeln. Weil es uns schwerfällt, gerecht zu sein. Weil es gerade uns so verdammt oft misslingt, mehr zu lieben, beharrlicher zu hoffen. Das ist mir in vielen aufrichtigen Auseinandersetzungen mit meinen ostdeutschen Mitmenschen klargeworden. Gerade wir, die wir den Namen Gottes tragen, brauchen Ermahnung – mehr als die anderen. Die anderen vermögen wohl, ohne alle Predigten und ohne Gebote Gutes zu tun und für Gerechtigkeit zu streiten, wir aber offenbar nicht. Das mag zuletzt der einzige Unterschied sein. Gerade wir Christinnen und Christen brauchen diese Ermahnung.
...wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig ... Redet so und handelt so als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.