Für die Betroffenen sei die Vorabveröffentlichung der Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche ein "schwerer Schlag", sagte der Trierer Bischof Stephan Ackermann am Mittwoch. Ein schwerer Schlag war sie, aber vermutlich eher für ihn selbst. Ackermann ist der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz und hatte alles so schön geplant: Er wollte die Untersuchung, an der unabhängige Kriminologen, Psychologen und Soziologen seit vier Jahren arbeiten, in zwei Wochen vorstellen und die Ergebnisse im Sinne der Kirche für die Öffentlichkeit deuten. Doch die Wochenzeitung "Die Zeit" ist ihm zuvorgekommen. Die Ergebnisse wurden durchgestochen.
Sie sind schockierend: 3677 Kinder und Jugendliche wurden seit 1946 von 1670 katholischen Klerikern begrapscht, besudelt und vergewaltigt. 4,4 Prozent aller katholischen Kleriker in Deutschland haben vermutlich Kinder missbraucht. In einigen Bistümern waren es, so die Wissenschaftler, "bis zu acht Prozent". Dieses Ausmaß ist ungeheuerlich. Und die Forscher betonen: "Diese Zahl stellt eine untere Schätzgröße dar." Denn nicht alle 27 katholischen Bistümer waren bereit, Akten ab 1946 zur Verfügung zu stellen, vielfach konnten die Forscher nur mit Informationen ab dem Jahr 2000 arbeiten. Aus zwei Bistümern erfuhren sie, dass Akten in der Vergangenheit vernichtet worden sind, um Missbrauch zu vertuschen. Wo sonst noch Akten beiseitegeschafft oder vorenthalten wurden, wissen nur die Bistümer selbst. Denn die externen Forscher hatten keinen Zugang zu den Archiven, sie mussten sich mit den Dokumenten begnügen, die ihnen Kirchenmitarbeiter heraussuchten.
Die Bischofskonferenz wollte zeitgleich mit der Veröffentlichung der Studie eine Hotline schalten für Menschen, "die aufgrund der Berichterstattung aufgewühlt sind", erklärte Bischof Ackermann. Stephan Ackermann mag sich tatsächlich um die Betroffenen sorgen, dennoch klingt seine Sorge wie blanker Zynismus. Wenn der Kirche die Betroffenen am Herzen liegen, warum hat sie es bisher nicht über sich gebracht, grundlegende Reformen durchzuführen, ja, nicht einmal anzugehen? Warum wurde nur ein Drittel der Täter zur Rechenschaft gezogen? Und warum werden auch in der aktuellen Studie weder die Täter noch die verantwortlichen Vertuscher namentlich genannt? Seit langem fordern die Betroffenen, dass die Täter benannt und bestraft werden.
Claudia Keller
Die Forscher haben außerdem zutage gefördert, dass die Übergriffigkeit von Priestern keineswegs aufgehört hat. Seit mindestens zehn Jahren ist klar, was die Faktoren sind, die sexuellen Missbrauch und seine Vertuschung in der katholischen Kirche begünstigen: abgeschlossene Machtzirkel, undurchdringliche Hierarchien, ein überhöhtes Priesterbild, unreife Sexualität bei Priestern, und, ja, womöglich auch der Zwang zum Zölibat. Doch wurde über die Abflachung der Hierarchien wenigstens ernsthaft diskutiert? Nein. Über die Abschaffung des Zölibats? Bloß nicht. Über die Brechung des Klerikalismus? Das wäre eine Anpassung an den Zeitgeist, rufen die Konservativen empört, die sich eine katholische Kirche ohne Kniefall vor den Priestern nicht vorstellen können. Die wenigen in den Reihen der Kirche, die grundstürzende Reformen anmahnen, stehen am Rande. Daran haben bisher auch all die schönen Worte von Papst Franziskus nichts geändert.
Auch die evangelische Kirche muss weiter aufklären
Es gibt aber keinen Grund, sich von evangelischer Seite über die katholische Kirche zu erheben. In der evangelischen Kirche gab es ebenfalls etliche Pfarrer, die sich für Gott hielten und ihre sexuellen Triebe an Jugendlichen ausließen. Auch hier wurde über Jahrzehnte weggeschaut und vertuscht, wo es ging. Die Übergriffe in der evangelischen Kirche wurden öffentlich nur nicht so diskutiert wie die im Bereich der katholischen Kirche. Der katholischen Kirche kann man zugutehalten, dass sie 2010 zumindest einen Missbrauchsbeauftragten eingesetzt hat. In der evangelischen Kirche fehlt ein solches Amt bis heute. Auch hat die evangelische Kirche keine Studie in Auftrag gegeben, die versucht, sexuellen Missbrauch in den evangelischen Landeskirchen flächendeckend aufzuarbeiten. Die aktuelle Studie der Bischofskonferenz muss beide Kirchen alarmieren. Ein schwerer Schlag für die Betroffenen wäre, wenn selbst diese erschütternden Erkenntnisse keine Konsequenzen hätten.