Es ist Samstag, und in dem fensterlosen Laden hallen die Stimmen vieler Kundinnen wider. Deckenstrahler werfen ein grelles Licht auf die Kinderkleidung. Blau für Jungs, rosa für die Mädchen. Die 40-jährige Sandra Namingha, die bloß Sandra genannt werden möchte, schiebt ihren Kinderwagen durch die Reihen mit Schühchen, Lätzchen und Kleidchen. "Ein Traum!", sagt sie zu ihrer 59-jährigen Freundin Wilma Schnieth und bleibt bei der Mode für junge Mädchen stehen.
Sandra spricht deutlich und klar. Doch die Verkäuferin, die ihre Hilfe im Einkaufszentrum in Berlin-Spandau anbietet, versteht nicht, was Sandra will. In dem Kinderwagen mit dem "Little Princess"-Kissen soll kein Kind liegen? Das schlafende Baby ist nicht echt, es ist eine Puppe? "Wollen Sie es mal nehmen?", fragt Sandra freundlich, doch die Verkäuferin weicht einen Schritt zurück. Mit einem schrägen Lächeln schaut sie sich um, als suche sie nach einer versteckten Kamera. Schließlich sagt sie: "Süß sind sie schon." – "Garantiert entspannte Nächte", witzelt Sandra.
Sofie Czilwik
Yannie trägt Kleidergröße 50. Nur Frühchen haben eine kleinere Nummer. "Wilma, guck mal, was sagst du?", sagt Sandra und hält ihrer Freundin ein rosarotes Kleidchen mit Rüschen hin. Sandra hat so viele Strampler und will für die nächste Reise etwas Schickes. In sechs Wochen fliegt sie nach New Mexico zu ihrer Familie. Yannie kommt mit. Würde Yannie leben, dürfte sie noch gar nicht fliegen, sie wäre erst zehn Tage alt. Zudem müsste sie gestillt werden, das Schlucken ist gut für den Druckausgleich. Sie würde jammern, wenn es sie irgendwo drückt. Yannie wird die fünfzehn Stunden im Flugzeug durchschlafen, so wie sie es immer tut. Für den zusätzlichen Babyplatz bezahlt Sandra 72 Euro.
"Jetzt haben wir Kinder", sagt ihr Mann, und zwei Jack Russel Terrier. "Nur dass die Puppen anders als die Hunde nicht nach Essen verlangen."
Sandra liebt ihre Puppen. Es ist die Liebe einer Frau zu einem Gegenstand, der nicht zurückliebt, zu einem Körper, der keine Aufmerksamkeit verlangt und um den sie sich trotzdem kümmern kann. Neben Yannie hat sie noch James, einen Reborn-Jungen mit wachen blauen Augen und verschmitztem Lächeln. Schiebt sie, wie an diesem Nachmittag, ihren Kinderwagen durch die Spandauer Altstadt, wird sie als eine von vielen Eltern wahrgenommen, die mit ihrem Nachwuchs an die frische Luft gehen. Passanten weichen ihr auf dem Bürgersteig aus, um sie vorbeizulassen, Fremde halten ihr die Türe auf.
Ihr sei es egal, was die Leute denken, sagt Sandra. Sie will aber auch nicht als verrückt wahrgenommen werden. Ein gängiges Vorurteil sei, dass Reborn-Mütter einen unerfüllten Kinderwunsch hegen. Den habe sie nicht, sagt Sandra. Sie hat eine 18-jährige Tochter aus erster Ehe, die eine Ausbildung bei Siemens macht. Mit ihrem zweiten Mann, einem Amerikaner aus Arizona, wohnt sie im Berliner Süden in einer Mietwohnung. Gemeinsame Kinder haben sie nicht. Sie haben es probiert. "Jetzt haben wir ja Kinder", sagt ihr Mann in breitem Englisch, und außerdem zwei "Puppies", zwei Jack Russel Terrier. "Nur dass die Puppen anders als die Hunde nicht nach Essen verlangen." Die Reborns hätten mit ihrem Kinderwunsch nichts zu tun, sagt Sandra. "Glücklich machen mich meine Familie, meine Freunde und unsere zwei Babys", steht auf ihrem Facebook-Profil. Die Reborns seien ein Hobby, das betont sie immer wieder.
Als sie im April vor zwei Jahren zum ersten Mal eine solche Puppe in den Armen hält, schluckt Sandra täglich Antidepressiva. Sie hat ein furchtbares Jahr hinter sich. Jeden Tag hängt sie acht Stunden lang am Telefon und beantwortet im Callcenter die Fragen unzufriedener Kunden. Im Team wird übereinander gelästert, über nette Gesten gelacht. Eine Kollegin, die Sandra nicht mag, bringt ihr eines
Tages Kaffee, der nach Essig schmeckt. Sandra schläft immer schlechter. In der U-Bahn bricht ihr der Schweiß aus, auf ihrer Brust lastet ein unerträglicher Druck. Sie fängt an zu laufen, jeden Tag eineinhalb Stunden zur Arbeit und eineinhalb Stunden zurück. Sie wird sehr dünn. Ihr Hausarzt sagt: "Ich glaube, Sie haben einen Burn-out." Sie wird krankgeschrieben und beginnt mit einer Psychotherapie.
als eines Tages eine Patientin mit einem Neugeborenen den Raum der Gruppentherapie betritt, denkt Sandra: Oh wie schön, ein Baby! Doch die Patientin hält eine Puppe auf dem Arm. Sandra ist fasziniert, die zarten Hände, die Stupsnase und die schwarzen Haare, die sich so weich anfühlen. Mit der Reborn gehe es ihr besser, erzählt die Patientin. Sandras Therapeut sagt, Puppen könnten ein Weg zur Heilung sein. Sandra informiert sich im Internet über Reborns. Sie liest sich Wissen über die Herstellung und die Materialien an und entscheidet sich schließlich für eine eigene Puppe.
Sandra beginnt wieder zu arbeiten, in einem anderen Callcenter mit neuem Team und weniger Telefondiensten. Dienstags und donnerstags nimmt sie eine ihrer zwei Reborns mit. Es sind die Tage, an denen sie abends junge Schwangere in einer therapeutischen Einrichtung für werdende Mütter an das Leben mit einem Säugling gewöhnt. Mit den Reborns hilft Sandra anderen Frauen, und die Reborns helfen ihr. Wenn es im Büro zu stressig wird, nimmt sie die Puppen auch mal während der Arbeit auf den Arm. Die Puppen geben ihr Sicherheit, das Gefühl, es könne nichts mehr schiefgehen.
Sandra betritt ihr Stammlokal in Berlin-Spandau. Alte Menschen sitzen an Tischen mit weißen Decken und trinken bei Kerzenschein Bier. Den Kellner ("unser Marco") begrüßt Sandra mit einem Küsschen, eine andere Bedienung schaut in den Kinderwagen. "Darf ich?", fragt die Kellnerin und nimmt Yannie hoch. "Die best-riechende Babywindel der Welt," sagt sie lachend, als sie Yannies Po an ihr Gesicht drückt.
Sandra nimmt schon lange keine Antidepressiva mehr
Einmal im Monat trifft sich Sandra hier mit einer Gruppe Berliner Reborn-Mamas. Der Wirt stellt ihnen dann einen Raum zur Verfügung, damit sich die Frauen ungestört unterhalten können. Durch die Lautsprecher klingt "May It Be" von Enya. Sandra und Wilma sitzen vor Milchkaffee und Selters, ihre Reborns jeweils im linken Arm. Sandra zupft die weiche Decke zurecht, in die sie die kleine Yannie eingewickelt hat. Sie streichelt ihr übers Köpfchen und berührt sanft ihre Hände.
Sandra nimmt schon lange keine Antidepressiva mehr. Die Puppen helfen ihr, sich zu beruhigen, nach einem Tag, an dem sie pausenlos im Stress gewesen ist. Das Kuscheln am Abend ist zu einem schönen Ritual geworden. Eine Reborn hat bei Sandra den gleichen Effekt wie ein Säugling bei Müttern. Die Puppe er- innert sie daran, wie es war, ihre Tochter auf ihrem Körper zu spüren, als sie noch klein war. Sandra fühlt sich geborgen. Nach besonders anstrengenden Tagen nimmt sie eine ihrer Reborns mit ins Bett. Ihr Mann, der nachts Zeitungen austrägt und tagsüber Kunstwerke aus Holz anfertigt, war überrascht, als er eines Morgens beim Aufwachen die Reborn-Puppe James neben sich entdeckte. Er sagt, er akzeptiere das, er wolle nur, dass es seiner Frau gut geht. Die Frage, ob sich in der Puppe ein unerfüllter Wunsch verbirgt, stellt er sich nicht. So klingt es jedenfalls.
Sandras Blick wandert immer wieder auf die Puppe in den Armen ihrer Freundin Wilma. Sie heißt Cheyenne. Kurz vor Weihnachten kaufte Wilma ihrer Freundin die Puppe ab, für 430 Euro. Cheyenne hat dunkle Haare und zieht ihre Nase nach oben. Sie ist einem zehn Wochen alten Baby nachempfunden, dem Kind von Sandras Schwester, das denselben Namen trägt. Sandra hat sie im vergangenen Jahr bei der Herstellerin bestellt, die bisher all ihre Puppen modelliert hatte. "Einfach nur, weil ich sie süß fand", sagt sie.
Dass Puppen echten Babys nachempfunden werden, ist in der Reborn-Welt normal. Unter den Rebornerinnen, so werden die Herstellerinnen genannt, gilt das als Königsdisziplin. Es gibt Frauen, die sich ihre eigenen Kinder als Reborns nachbilden lassen. Für sie ist das wie ein dreidimensionales Foto, eine Erinnerung zum Anfassen. Während die Kinder größer werden und irgendwann ihr eigenes Leben beginnen, bleiben ihre Nachbildungen für immer zu Hause bei den Müttern. Es gibt auch Frauen, die Puppen nach Babys anfertigen lassen, die tot auf die Welt kamen oder kurz nach der Geburt starben. Als Ersatz für das Kind, das sie verloren. Sandra lehnt das ab. Reborns, sagt sie, sollten bleiben, was sie sind: Puppen. Für sie ist eine Grenze überschritten, wenn Frauen ihre Reborns in der Öffentlichkeit füttern oder wickeln. Spazieren gehen, kuscheln, die Puppen auf den Arm nehmen und sie anziehen – das ja. Sie will eine Schwelle markieren, vielleicht damit sie die Puppen niemals mit einem Baby verwechseln kann.
Bei einem Hersteller in China hat Sandra ein Herz für Yannie bestellt
Rund um die Reborns ist mittlerweile ein ganzer Markt entstanden. Deutschland ist mit schätzungsweise 2500 Reborn-Herstellern der drittgrößte Markt nach den USA und England. Bis zu 25 000 Euro kann eine Reborn kosten. Es gibt Duftöl, das den Puppen den Geruch von Babys verleiht. Lautsprecher werden angeboten, die Baby-Laute auf Knopfdruck wiedergeben. Und es gibt kleine Geräte, die einen Herzschlag imitieren. Drückt man die Reborn an sich, fühlt es sich an, als schlage ein kleines Herz in dem Körper der Puppe.
Bei einem Hersteller in China hat Sandra ein Herz für Yannie bestellt. Zwanzig Euro hat es gekostet. Wenn das Herz da ist, wird Sandra vorsichtig die Kabelschnur lösen, die Yannies Kopf am Stoffkörper festhält. Sie wird die Watte und das Gummigranulat herausnehmen. Dann wird sie das Gerät in den Körper einsetzen und den Kopf auf dem Rumpf befestigen. Sandra weiß noch nicht, wann der Apparat geliefert wird. Aber sie weiß schon, wie er aussieht: Er ist rot und hat die Form eines Herzens.