Lena Uphoff
15.11.2010

Jetzt ist Ruth sechzig und hat immer noch nicht alle Tassen im Schrank. Ruth sammelt. Sie sammelt Tassen. Kein Trödlerladen, an dem sie vorbeikommt. Immer auf der Suche, immer unterwegs. Was muss sie alles aushalten wegen ihrer Leidenschaft! Wir Freunde hören es immer wieder gern, wenn Ehemann Walter den Hausstand beschreibt: "Im Wohnzimmer Tassen. Im Flur Regale mit Tassen. Im Schlafzimmer, in der Küche, im Gästeklo, im Badezimmer, in jedem freien Winkel Tassen, Tassen, Tassen. Und wo keine Tassen stehen, stehen Kartons. Ihr dürft raten, was drin ist. Ich bin froh, dass Ruth mein Bett noch nicht rausgeworfen hat. Wäre ja noch Platz für Tassen. Vielleicht liebt sie mich ja doch. Oder sie hält mich für eine Tasse, wenn auch eine trübe."

"Sie hält mich für eine Tasse, wenn auch eine trübe."

Nach Walters letzter Registerarie, die er unter allgemeiner Anteilnahme gesungen hatte, fragte ich Ruth, ob ihr das nicht langsam auf die Nerven ginge, wenn Walter die Opferrolle so weidlich auskoste. "Nein, nein", antwortete sie, "das ist schon in Ordnung. Der arme Kerl macht ja wirklich einiges mit. Und das seit gut dreißig Jahren. Irgendwie muss er das ja verarbeiten." Als Walter und Ruth einander kennen und lieben lernten, berichten sie übereinstimmend, spielten Tassen in ihrem Leben noch keine Rolle. "Das fing an, als ich von meiner verstorbenen Lieblingstante drei so kleine Mokkadinger erbte. Ich wusste gar nicht, was ich mit denen anfangen sollte, und auch nicht, was sie wert waren."

Das änderte sich, als ein alter Freund bei den beiden Station machte. "Der war Porzellanexperte und brach in Entzückensschreie aus, als er die Mokkatassen meiner Tante sah. Weißt du, was du da hast?, rief er. Meissen! Polychromer Blumendekor! Sind die versichert? Und die stehen hier so rum! Tja, so fing es an." Die ersten zwanzig Beutestücke fand Walter noch toll. "Für fünf Mark eine Limoges-Tasse, die unter Kennern leicht das Zweihundertfache wert ist, das beeindruckte mich. Die nächsten paar Hundert fand ich okay. Aber als Ruth ernsthaft überlegte, nicht in Urlaub zu fahren und das dafür Angesparte in Tassen anzulegen, bekamen wir Krach." Walter arbeitete damals als Sachbearbeiter bei den Stadtwerken, Ruth schob als Krankenschwester Nachtdienst. "Für große Fürze hatten wir keinen Pfennig übrig. Und unsere beiden Jungs sollten keine Not leiden." Ruth versprach Mäßigung. Man einigte sich auf ein knappes Tassenbudget. So weit, so gut.

Sie wollte mir meinen alten Traum erfüllen

Vor zwei Jahren bekam Walter eine ziemlich üble Krebsdiagnose. "Sah so aus, als müsste ich bald abdanken. Wir haben viel über die Zukunft geredet damals und über unerfüllte Lebensträume. Logisch. Eines Nachmittags, als ich von der Therapie früher als geplant nach Hause kam, ist ein fremder Mann bei Ruth. Na, ich sage dir! Der hatte es sehr eilig, sich zu verabschieden." Ruth wollte nicht mit der Sprache rausrücken, wer der Fremde sei. Erst als Walter in Zorn geriet, erzählte sie ihm alles: "Das war der Sachverständige eines Auktionshauses. Ruth wollte tatsächlich ihre ganzen Heiligtümer verkloppen. Sie wollte mir meinen alten Traum erfüllen: eine Weltreise. Ägypten, Mongolei, Japan, Mexiko." Walter nahm seine Ruth erst mal in den Arm. "Das machen wir auf keinen Fall! Du musst doch wenigstens deine Tassen haben, wenn ich mal nicht mehr bin, hat er gesagt. Typisch Walter."

Fußball im Fernsehen. Das muss Ruth aushalten

Walter hat die Chemotherapie gut überstanden. Seine Prognose ist günstig. In Ägypten waren die beiden inzwischen. "Weltreise brauch ich nicht. Ich habe ja die ganze Welt in der Wohnung. Tassen aus Japan, aus China und sonst woher." Ruth lächelt. "Und als er krankgeschrieben zu Hause saß, hat Walter meinen ganzen Plunder auf dem PC inventarisiert. Wenn nicht gerade Fußball im Fernsehen kam."

"Fußball im Fernsehen. Das muss nämlich Ruth aushalten. Arena, Premiere, Eurosport, DSF ­ irgendwo wird immer gespielt. Und wenn ich es nicht live sehen kann, zeichne ich es auf. Ruth hat neulich gesagt: Du würdest dir sogar Ober-Timbuktu gegen Unter-Timbuktu anschauen. Das stimmt nicht. Aber den Afrikacup schon, wenn zum Beispiel Nigeria gegen Elfenbeinküste spielt. Weltklasse." Des Cups wegen hat Walter eine Arte-Sendung auf dem Rekorder gelöscht, in der es um kostbares Porzellan ging. "Ich habe gesagt, sie solle sich nicht aufregen. Es ging schließlich um einen Cup. Und was heißt Cup? ­ Tasse." Hoch damit!

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