Im Sommer die Hauptstadt zu erleben, das ist – offensichtlich nicht nur für mich – ein Vergnügen. Mehr als 30 Millionen Übernachtungen von Gästen zählt Berlin im Jahr. Doch irgendwann können einem all die Menschen, der Verkehr, der Lärm und die Hitze zu viel werden. Zeit, ins Museum zu gehen.
Johann Hinrich Claussen
Das – zu wenig beachtete – Bode-Museum auf der Museumsinsel empfängt mich mit Ruhe, Kühle und weiten Räumen, in denen herrlichste christliche Kunst zu entdecken ist. Ich suche diesen Asylort der Stille regelmäßig auf, um dem Hauptstadtstress zu entkommen. Oder ich gehe nebenan in die Alte Nationalgalerie. Dort ist es zwar meist belebter, dafür aber kann ich einen guten alten Freund besuchen: Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" (1808/10). Nach einer Restaurierung vor zwei Jahren wirkt er jetzt viel heller und hoffnungsfroher als früher. Wer das noch nicht gesehen hat, hole es sehr bald nach.
In diesem Sommer hat der Mönch Besuch von einem hanseatischen Cousin bekommen: Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" (1818). Diese Leihgabe aus der Hamburger Kunsthalle soll in die Sonderausstellung "Wanderlust. Von Caspar David Friedrich bis Auguste Renoir" locken. Über 120 Gemälde aus Frankreich, Deutschland oder Russland zeigen, wie im 19. Jahrhundert das Wandern zu einer populären Passion wurde. Als säkulare Fortsetzung des Pilgerns öffnete es den Menschen die Sinne für die Kräfte des eigenen Körpers, das Glück des einfachen Lebens und die Schönheiten der Natur – und nicht wenigen schenkte es darüber hinaus eine Ahnung des Unendlichen, die nach einem künstlerischen Ausdruck rief. Das war eine große Hoffnung: Hinaus aus dem "Moloch" der überfüllten und verdreckten Großstadt und zurück ins unberührte "Paradies". Was ist daraus geworden? Die Natur und was davon noch übrig ist – längst ist sie ein touristisch genutztes Gewerbegebiet. Insofern hält diese Ausstellung ihren spätmodernen Besuchern einen scharfen Spiegel vor: Wo soll unsere Sehnsucht noch hin?
Riesige Schlangen, endlose Wartezeit
Dazu passt eine Ausstellung über "Europa und das Meer", die wenige Schritte weiter im Deutschen Historischen Museum (Unter den Linden) zu sehen sein wird. Dieses große Haus hatte in der Vergangenheit mit seinen Sonderausstellungen wenig Glück. Das war kein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Museen Berlins haben ein zu kleines Budget für Sonderausstellungen, weshalb sie im europäischen Vergleich zu wenig Besucher anlocken. Mit Tränen in den Augen spricht man in Berlin immer noch von der großen "MoMA"-Ausstellung von 2004. Mehr als eine Million Menschen strömten in die Neue Nationalgalerie, um die beliebtesten Stücke des New Yorker Museums für moderne Kunst zu bestaunen. In riesigen Schlangen nahmen sie endlose Wartezeiten auf sich. Eine "Blockbuster-Ausstellung". Ich denke beim Wort Blockbuster leider sofort an Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg und frage mich, ob diese Ausstellung auch wirklich gut konzipiert war. Es wäre doch noch schöner, wenn Popularität auch mit Qualität verbunden wäre.
Die eigenen Bestände kann das DHM zeigen, doch wenn es darüber hinausgehen soll, wird es problematisch. Die Gemäldegalerie am Kulturforum, die sehr häufig einfach sehr gute Ideen hat, bestätigt als Ausnahme die traurige Regel. Man wünschte sich, dass etwas von den erstaunlichen Mitteln, die in das geplante Humboldt Forum im Berliner Schloss geschleust werden, an die anderen Häuser weitergeleitet würde. Doch auf die Meer-Ausstellung darf man gespannt sein. Denn sie hat sich ein ebenso historisch grundsätzliches wie aktuell bedrängendes Thema vorgenommen.
Europa ist ein maritimer Kontinent, und die europäischen Meere sind vieles zugleich: Lebensraum, Wirtschaftsfaktor, Handelsnetz, Machtinstrument, Natur, Urlaubsziel, Kulturkraft, Kunstgegenstand, Sehnsuchtsort und nicht zuletzt Migrationsstation sowie Fluchtroute, Brücke und Grenze. Und all dies von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart. Wie wird das wohl in eine einzige Ausstellung passen? Und wird auch Platz bleiben für das Meer als "ein metaphysischer Traum" (Thomas Mann)? Das Meer ist ja nicht einfach nur ein Stück Natur oder eine Wasserlandschaft, sondern löst in seiner Endlosigkeit und Grandiosität ein Gefühl der Ehrfurcht aus. Wer dies empfindet, dem wird das Meer zum Repräsentanten des Ewigen.
Ist man nun schon im DHM und will als kostenbewusster Besucher den Eintrittspreis voll ausnutzen, führen ein paar Schritte in die Ausstellung "Sparen – eine deutsche Tugend". Gerade für emsige Protestanten ist dies ein Muss.
Ein ganz besonderes Ausstellungshaus
Aber warum nur zu großen Kultureinrichtungen gehen? Das Interessanteste findet sich häufig eher andernorts. Zum Beispiel an einer einstmals prominenten, heute fast vergessenen Ecke – hinter dem Bahnhof Zoo. Dort residiert im ehemaligen Amerika Haus, einem Schmuckstück bester Nachkriegsarchitektur, "C/O Berlin", ein Ausstellungshaus, das sich auf die Kunst der Fotografie konzentriert. Hier kann man blind jede Ausstellung auswählen und wird nie enttäuscht. Besonders freue ich mich auf die sommerliche Schau "Wim Wenders. Sofort Bilder", eine Ausstellung mit Polaroids.
Im vergangenen Jahr hatte ich die Ehre, bei der Verleihung des evangelischen Hans- Ehrenberg-Preises an den berühmtesten deutschen Regisseur mitzuwirken. Da habe ich ihn als einen auf seine Weise protestantischen Künstler kennengelernt (auch wenn er gerade einen Film über den Papst drehte). Vor allem aber ist Wenders ein überaus anregender Bildermensch, dessen Fotografien ich noch lieber anschaue als seine Filme.
Ist man in den Sommerferien in Berlin, lohnt es sich auch, entspannt von einer Galerie zur nächsten zu schlendern. Dazu muss man nur in Berlin-Mitte die Linienstraße hoch- und die parallel gelegene Auguststraße zurücklaufen. In letzterer liegt übrigens das Kulturbüro der Evangelischen Kirche, wo mein Schreibtisch steht. Aber ich komme viel zu selten dazu, all die interessanten Nachbarn zu besuchen.
Berlin ist eine Stadt der Galerien, aber auch der Sammlungen. Manche von ihnen sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Besonders zu empfehlen: die "Sammlung Hoffmann", wenige Schritte von der Auguststraße entfernt. Hier lebt seit 1997 Erika Hoffmann in einem großen Loft mitten in einer Sammlung zeitgenössischer Kunst, die sie mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann seit den frühen Sechzigerjahren aufgebaut hat. Eine bekannte Hemdenfabrik lieferte die dafür nötigen Mittel. Jedes Jahr im Juli wird die Sammlung dort ganz neu präsentiert, jedes Mal in höchster Qualität. Samstags kann man diesen einmaligen Wohn- und Kunstort besuchen – allerdings nur, wenn man sich rechtzeitig angemeldet hat und die bereitliegenden Filzpantoffeln anzieht, schließlich geht man ja durch die Wohn- und Arbeitsräume von Frau Hoffmann. Manchmal soll man ihr sogar selbst begegnen.
Wie kaum eine andere Stadt der Welt ist Berlin ein bewusst gestalteter Erinnerungsort. Deshalb sollte man nicht nur nach schönen Kunstausstellungen Ausschau halten, sondern auch eine Gedenkstätte besuchen. Die "Topographie des Terrors" neben dem Martin-Gropius-Bau ist zum einen ein ergreifender Ort und bietet zugleich immer wieder sehr kluge und konzentrierte Sonderausstellungen – in diesem Sommer über den Volksgerichtshof: "Terror durch Recht". In einer Zeit, da Grundprinzipien der Demokratie weltweit und auch bei uns infrage gestellt werden, ist die Erinnerung an die Bedeutung des Rechtsstaats und die Möglichkeit seiner Pervertierung außerordentlich wichtig. (Interessant ist übrigens, dass es hier eigene Bildungsangebote für Arabisch sprechende Gäste und Flüchtlinge gibt.)
Worte und Klänge aus einer anderen Dimension
Das spannungsvolle Verhältnis von Kunst und Kirche lässt sich in St. Matthäus am Kulturforum erfahren. In ihrer hellen Schlichtheit eignet sie sich perfekt für Ausstellungen zeitgenössischer Kunstwerke, die hier aber nicht nur vorgezeigt werden, sondern immer auch Teil von Gottesdiensten sind. Das ist ja die besondere Chance von Kunstausstellungen in Kirchen: Man eilt nicht zunehmend übersättigt und bald ermattet von einem Bild zum nächsten, sondern man teilt sich den "heiligen Raum" eine ganze Stunde lang mit einem säkularen Artefakt und hört dabei Worte und Klänge, die die Betrachtung in eine andere Dimension führen können.
Deshalb sind die Gottesdienste in St. Matthäus (sonntags um 18 Uhr) so zu empfehlen. In diesem Sommer kann man eine Installation von Björn Dahlem, der als "Architekt intergalaktischer Ereignisse" bekannt wurde, anschauen, die sich dem Verhältnis von Religion, Kunst, Naturwissenschaft und Zukunftstechnologie widmet. Mitte September folgt Jorinde Voigt mit ihren großformatigen, farblich ebenso sensiblen wie explosiven Zeichnungen. Voigts Arbeiten hatte ich vor zwei Jahren in der ehemaligen Kreuzberger Kirche St. Agnes bestaunt, die in eine Galerie umgewandelt worden ist. Wie werden Voigts Bilder nun in einer richtiger Kirche wirken, in der noch Lieder gesungen und Gebete gesprochen werden, in der Kunstwerke nicht verkauft, sondern zweckfrei ausgestellt werden?
Das schönste und geistlichste Kunstwerk Berlins ist für mich allerdings eine Kapelle. Sie steht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Im Inneren hat der Amerikaner James Turrell, der einer Quäkerfamilie entstammt, sie in eine Lichtinstallation verwandelt. An bestimmten Tagen zum Sonnenuntergang kann man sie besuchen. Das Tageslicht leuchtet ein letztes Mal durch die Fenster und verbindet sich mit Turrells Kunstlichtkreationen. Nirgendwo sonst kann man sich nach einem langen Tag so verzaubern lassen. Anmeldung empfohlen.
So klingt ein langer Kunsttag still und meditativ aus. Hat etwas gefehlt? Manche wünschen sich in unseren aufgewühlten und konfliktreichen Zeiten mehr politische Kunst (dazu gab es in der Frankfurter Schirn gerade eine Ausstellung zu sehen). Ich weiß nicht recht. Meinungen gibt es im öffentlichen Raum doch schon genug. Was uns fehlt ist ein neuer und anderer Blick auf uns selbst, unsere Nächsten und Fernsten, die Welt, in der wir leben.
P.S.: Eine ganz neue Turrell-Lichtinstallation mit dem Titel "Aural" ist seit kurzem im Jüdischen Museum zu sehen.